In den letzten Wochen waren wir immer wieder für Stunden und Tage ohne Wasser, Strom, Heizung, Internet und Mobilfunk. Denn die Infrastruktur ist durch russische Raketen gestört, und AKW schalten wegen Angriffen ab.

Nur im Zentrum von Kiew hat man dann auf wenigen Quadratkilometern Empfang. Ausserhalb kann man seine Lieben nicht anrufen oder ihnen mitteilen, dass es einem gut geht. Der Strom wird zweimal am Tag für vier Stunden abgeschaltet. Manche haben das Glück, in der Nähe eines Spitals oder kritischer Infrastrukturen zu wohnen, und sind deshalb nur selten ohne Strom.

Das Geräusch von Explosionen erschreckt uns hier in Kiew normalerweise nicht mehr. Minenräumer lassen immer wieder aufgefundene Sprengsätze detonieren, und die Luftabwehr ist während der Angriffe ständig im Einsatz – sie trifft nun etwa 80 bis 85 Prozent der russischen Raketen. Aber jeder Angriff bringt 50 bis 100 Raketen, so dass selbst diese Effektivität nicht ausreicht.

Die Stadt passt sich langsam an. Die elektrischen Busse wurden durch Busse mit Dieselantrieb ersetzt, und die meisten Restaurants haben ein alternatives Menü, das ohne Strom zubereitet werden kann. In den Liften wurden Stühle und Wasserflaschen für jene Unglücklichen aufgestellt, die den Ratschlag ignorieren, die Treppe zu benutzen. Ich verstehe sie, es gibt hier viele Gebäude mit mehr als 20 Stockwerken. Die beliebtesten Geburtstagsgeschenke sind inzwischen Powerbanks, USB-Lampen und Reisekits. Sogar Kerzen sind beliebt geworden.

Bücher werden beliebter

Meine Familie und ich spielen Brettspiele, wenn es kein Licht gibt. Und die Leute haben begonnen, mehr von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren. Und zu lesen – vor kurzem habe ich sogar eine Warteschlange in der Bibliothek gesehen.

Allerdings hat die Zahl der Unfälle zugenommen, weil die Strassen nicht beleuchtet sind. Und die Preise sind erneut sprunghaft gestiegen, weil die Geschäfte wegen der Stromausfälle massive Einbussen haben.

Mein Buchclub hat eine Überraschungsparty zu meinem Geburtstag veranstaltet. Seltsam, eine Party im Krieg.

In Zeiten ohne Heizung werden Leute mit einem Gasofen plötzlich sehr beliebt. Glücklicherweise hat die globale Erwärmung zumindest einen Vorteil – dieser Winter sollte wirklich nicht so kalt werden. Der erste Schnee fiel am 20. November, normal wäre Ende Oktober.

Die Leute beschweren sich nicht. Ja, sie schimpfen untereinander, aber eher aus Gewohnheit. Alle wissen, dass wir kein Recht haben, uns zu beschweren. Denn unsere Verteidiger schlafen im Schnee in den Schützengräben, und die Menschen in den enteigneten Gebieten können von ein paar Stunden Strom nur träumen.

Die Neugier siegt

Während eines Angriffs war ich gerade mit einem Freund in einem Café im Stadtteil Pechersk. Die Bruchstücke der Rakete fielen 500 Meter entfernt. Zuerst hörten wir Schreie, dann gab es eine Art Erdbeben, die Bilder an den Wänden wackelten, Geschirr fiel aus den Regalen. Wir krochen instinktiv unter den Tisch, aber alle anderen standen an den Fenstern – die Neugier siegt über den gesunden Menschenverstand. Rauch stand am Himmel, und die Leute rannten zur nächsten U-Bahn-Station.

Mein zwölfjähriger Bruder verbrachte die ganzen acht Stunden des Angriffs im Luftschutzkeller der Schule. Es gab keine Verbindung, ich machte mir Sorgen. Als ich ihn nach dem Alarm abholte, war er glücklich. Er und seine Klassenkameraden hatten es endlich geschafft, sich kennenzulernen und Freunde zu werden. Sie spielten Spiele und teilten das Essen – jedes Kind sollte jetzt einen strategischen Vorrat für längere Luftangriffe bei sich haben.

Mein Buchclub hat eine Überraschungsparty zu meinem Geburtstag veranstaltet. Seltsam, eine Party im Krieg. Wir sind Rollschuh gelaufen, es waren 20 Leute da, ich glaube nicht, dass ich je so viele Gäste hatte. Eines der denkwürdigsten Geschenke war ein Brief von der Front. Das klingt so surreal, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so ein Relikt haben würde.

Ein Freund von mir ist zum ersten Mal seit April für einen Tag von der Front zu seiner Familie zurückgekehrt. Danach sagte er, es sei ihm klar geworden, wie schwer es für ihn sein würde, in ein friedliches Leben zurückzukehren. Er erzählt nie, wie es ist dort draussen an der Null-Linie. Und ich frage auch nicht danach.

Heimkehr ins Ungewisse

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Kateryna Potapenko kehrt mit ihrer Familie nach Kiew zurück.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

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Kateryna Potapenko

Kateryna Potapenko, 28, war aus Kiew nach Winterthur geflüchtet und ist jetzt wieder zurückgekehrt. Für den Beobachter erzählt sie in der Serie «Tagebuch einer Flucht» über ihr Leben.

Quelle: private Aufnahme
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