Wir haben unsere Notfallrucksäcke aufgerüstet: gegen Radioaktivität und Chemieangriffe. Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse sind ausverkauft, immerhin bekommt man Jod noch flüssig. Dazu breites Klebeband zum Abdichten der Fenster und Atemschutzmasken – gut, dass wir davon noch eine Menge aus der Covid-Staffel unserer aktuellen Katastrophenserie übrig haben.

Am 24. August feierten wir den Unabhängigkeitstag der Ukraine. Dazu wurde ein Haufen verbrannter russischer Ausrüstung auf die zentrale Strasse von Kiew gebracht, denn die Russen hatten eine Parade für diesen symbolkräftigen Tag in Kiew angekündigt. Einige hier sehen diesen Scherz als einen Akt der Stärke. Ich persönlich mag diese Art von schwarzem Humor nicht. Ich bin gegen jegliche russische Ausrüstung auf ukrainischen Strassen.

Viele Kiewer sind am Vorabend des Unabhängigkeitstags abgereist, weil sie die russische Vorliebe für geschichtsträchtige Daten kennen. Die meisten von ihnen sind – wie zufällig – in die Ferien gefahren. Aber es gibt auch solche, die vor dem Datum nach Hause zurückkamen – auch das ein symbolischer Akt.

Zwei Stunden Glück

Was mir nach meiner Rückkehr aufgefallen ist: dass man auf den Strassen viel weniger Russisch hört. Endlich! Seit mehr als 30 Jahren der Unabhängigkeit haben wir gehofft, dass Ukrainisch in der Ukraine populär würde (so absurd das auch klingen mag). Es ärgert mich allerdings, dass die Leute vor allem in der Öffentlichkeit verkünden, dass sie zum Ukrainischen gewechselt haben – und erwarten, dass alle sie loben. Wofür denn? Dafür, dass sie endlich angefangen haben, die Staatssprache zu sprechen?

Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr habe ich kürzlich eine Comedyshow besucht. Sie fand in einem Palast im Stadtzentrum statt. Aus Sicherheitsgründen wurde der Saal nur halb gefüllt. Zwei Stunden lang genossen wir die Show und hofften, dass keine Sirenen heulen würden. Wir hatten Glück.

Einige Tage lang (länger bleiben Nachrichten hier nicht mehr aktuell) kursierte in sozialen Netzwerken und Medien die Meldung, dass Freiwillige mit Spenden Zugang zu einem Satelliten gekauft haben, um aus dem All die Bewegung feindlicher Truppen zu verfolgen. Leute wie ich haben einfach gespendet und konnten einen Satelliten kaufen! Vielleicht eine Antwort an all die russischen Liberalen, die fragen: «Wir sind hilflos, was können wir schon tun?»

Nach jedem Kauf neuer Waffen oder wenn die Alliierten Ausrüstung liefern, werden alle sofort zu Fachleuten. Eben noch fachsimpelten junge Frauen im Friseursalon über die Reichweite der Kurzstreckenraketen, jetzt geht es um die Auflösung der Satellitenbilder und wie genau die Kamera durch Wände sehen soll.

Kränkende Fragen

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben mir aus Winterthur geschrieben. Einige wollten wissen, wie unsere Rückkehr nach Kiew verlaufen ist, weil sie sich ebenfalls auf die Abreise vorbereiten. Die meisten fragten aber erstaunt: «Seid ihr wirklich zurückgekehrt? Warum?»

Eine erstaunliche Frage, vor allem von Leuten, die buchstäblich aus dem Viertel neben mir weggezogen sind. Neulich zum Beispiel reagierten die Nachbarn, die ihre Tochter zum Studium nach Grossbritannien geschickt haben, sehr überrascht, mich im Lift zu treffen. «Wir waren sicher, dass Sie nicht zurückkommen würden.» Mich kränkte das. Es sagt einiges über die Einstellung dieser Leute zu ihrem Land. Denken sie wirklich, dass mein Leben hier nicht gut genug für mich war?

Keiner meiner Freunde hier hat nach der Schweiz gefragt. Sie wollten nicht wissen, ob ich Bilder habe, ob ich die Sprache gelernt habe oder ob die Klischees über die Schweiz zutreffen. Nichts. Ich glaube, es schmerzt sie einfach, weil es ihnen wie ein anderes Leben vorkommt, so ohne Krieg. Für die meisten hier ist es unmöglich, sich vorzustellen und anzuerkennen, dass der Rest der Welt weiterlebt wie bisher.

Der Traum vom Frieden

Die Gespräche mit den Freunden laufen alle nach dem gleichen Muster ab: «Am 24. Februar bin ich aufgewacht, weil ich eine Explosion hörte / Verwandte anriefen / Flugzeuglärm …» Dann die Fragen: Hattest du einen Notfallkoffer oder nicht? Wie hast du Kiew verlassen, in welcher Region hast du dich aufgehalten, wann bist du zurückgekehrt?

Doch es gibt immer noch Freunde, die ich nicht treffen konnte. Einige sind jetzt in der Armee. Einer von ihnen ist Mitglied meines Buchclubs. Er versucht, jedes Buch auf unserer Liste zu lesen, und verspricht jedes Mal, zum nächsten Treffen zu kommen. Wir alle wissen, dass das unwahrscheinlich ist. Doch wir spielen mit. Denn wir verstehen, dass solche Pläne – die Vorstellung eines Lebens in Frieden – eine beruhigende und ermutigende Wirkung haben. Auf ihn und auch auf uns.

Heimkehr ins Ungewisse

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Kateryna Potapenko kehrt mit ihrer Familie nach Kiew zurück.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

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Zur Person

Kateryna Potapenko

Kateryna Potapenko, 28, war aus Kiew nach Winterthur geflüchtet und ist jetzt wieder zurückgekehrt. Für den Beobachter erzählt sie in der Serie «Tagebuch einer Flucht» über ihr Leben.

Quelle: private Aufnahme
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