Vor gut einem Jahr wurde mir eine Genugtuung zugesprochen, die Maximalsumme, weil das Fachgremium im Bistum Basel meinen Fall als schwerwiegend erachtete. Eine Entschuldigung habe ich aber nicht erhalten.

An meinem 13. Geburtstag schickte mich meine Mutter los, Pfarrer Alfred M. in Baldingen AG etwas zu bringen. Draussen stürmte es, ich wollte nicht gehen und weinte. Ich kann mich an jedes Detail erinnern. Vom Moment an, als ich die Kirche sah, setzt meine Erinnerung aber aus. Ich weiss nicht, was danach geschah.

Ich habe erdrückende Ohnmachtsgefühle im Zusammenhang mit allem Kirchlichen. Ich ertrage keinen Gottesdienst, kein Kirchenkonzert und leider auch keine kirchliche Feier mit meinen Enkelkindern, weil mein Körper extrem stark reagiert. Manchmal erstarre ich dann und kann kaum mehr atmen.

Missbrauch mit fünf Jahren

Wir waren zu Hause neun Kinder, und es fehlte an allem. Mein Vater konnte keinen Beruf erlernen und verdiente deshalb kaum viel mehr als ein Trinkgeld. Unsere Familie war streng katholisch, und der Pfarrer war unangreifbar. Dass er etwas Schlechtes tun würde, war für meine Eltern nicht denkbar. 

Ich vermute, dass der Pfarrer schon übergriffig wurde, als ich ein kleines Kind war. Im Alter von fünf Jahren wurde ich bei meiner Gotte in ein anderes Dorf in Pflege gegeben. Heute bin ich überzeugt, dass das mit dem Missbrauch zusammenhing. Wenn damals in den 1950er-Jahren jemand behauptete, eine Fünfjährige habe den Pfarrer verführt, dann hatte man Verständnis für den Geistlichen und glaubte sicher nicht dem Kind.

Nicht das einzige Opfer

An der Fasnacht schminkte der Pfarrer uns Mädchen jeweils. Er setzte uns auf seinen Schoss und betastete uns überall. 

Im Herbst 1972 sah ich an einem Kiosk eine «Blick»-Schlagzeile: «Pfarrer vor den Augen seiner Schulkinder verhaftet!» Aus den Schilderungen wusste ich sofort: Das war Alfred M. Er war jenseits der Grenze erwischt worden, als er Mädchen sexuell belästigte. 

Ich zeigte den Artikel meiner Mutter und sagte, dass ich keinen Moment an den Vorwürfen zweifeln würde. Darauf erzählte sie mir, wie der Pfarrer sie einmal angerufen und gebeten habe, doch mich und meine Schwester zu ihm zu schicken, weil er uns aufklären wolle. «Ja, aufklären mit offenem Hosenschlitz!», entfuhr es mir da. Das war eine ungeheuerliche Aussage in unserem Haus – doch meine Mutter reagierte zu meinem grossen Erstaunen überhaupt nicht darauf.

Für mich sah es aus, als hätten sie meine Worte kurz in einen Schockzustand versetzt.

Der Pfarrer kam schon am nächsten Tag gegen Kaution wieder frei. Nach wenigen Monaten wurde das Verfahren eingestellt. Die Lokalzeitung schrieb, Anschuldigungen der Kinder hätten sich «entgegen den seinerzeitigen Ausführungen einer sensationslüsternen Presse alles andere als schwerwiegend herausgestellt». 

Alfred M. wurde erst vier Monate nach seiner Verhaftung vom damaligen Bischof des Bistums Basel zu den Vorfällen befragt. Im April 1973 trat er als Pfarrer von Baldingen-Böbikon AG zurück und wohnte bis zu seinem Tod 1991 im St.-Johannes-Stift in Zizers GR. Dort war er unter anderem als Aushilfspriester im Bistum Chur und als Seelsorger der letzten österreichischen Kaiserin Zita tätig. Im Nachruf auf Alfred M. in der «Kirchenzeitung» hiess es, er habe «selbstlos und segensreich» gedient.

Aufgezeichnet von Thomas Angeli.

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