Es geschah 1959, etwa ein Jahr nachdem ich ins Internat in der Missionsschule in der Marienburg in Thal SG eingetreten war. Ich war damals zwölf, und wir mussten jede Woche einmal beichten gehen. Das Problem war, dass mir mit der Zeit keine Sünden mehr einfielen.

So schaute ich im Kirchenbuch nach und fand dort, dass man «sexuelle Handlungen an anderen oder sich selbst» beichten konnte. Als ich das Pater Anselm G. erzählte, forderte er mich auf, das nächste Mal die Beichte bei ihm im Zimmer abzulegen. 

Dabei gab er mir zwei Möglichkeiten: zwölf Vaterunser und Ave Maria oder von ihm den nackten Hintern verprügelt bekommen. In den folgenden Monaten verprügelte mich Pater G. mindestens ein Dutzend Mal, und ich war nicht der Einzige. Zudem war er immer dabei, wenn wir duschten. Offenbar liebte er es, den Knaben zu zeigen, wie man die Vorhaut wäscht. 

Ich war rund zwei Jahre im Internat in der Marienburg. Als meine Eltern das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnten, bot Pater G. an, dafür aufzukommen. Das wollte ich aber auf keinen Fall, und so trat ich trotz guter Noten aus dem Gymnasium aus. 

Die Opfer wehren sich

2013 meldete ein ehemaliger Schüler die Übergriffe dem Steyler Orden, der die Schule in der Marienburg betrieben hatte. Der Schüler wollte keine Entschädigung, sondern einfach eine Entschuldigung für den erlittenen Missbrauch. Er hatte sich schon vier Jahre zuvor an den Orden gewandt, aber diese Meldung war aus unerklärlichen Gründen verloren gegangen. 

Pater G. musste auf Geheiss des Ordens von seiner Missionsstation in die Schweiz zurückkommen und sich den Vorwürfen stellen. Er stritt alles ab und erstattete gegen den ehemaligen Schüler Anzeige wegen Verleumdung. Als Jurist wusste er sehr genau, dass er damit auch eine Strafuntersuchung gegen sich selbst auslöste – und dass diese wegen Verjährung eingestellt werden würde.

Der Orden machte publik, dass es in der Marienburg möglicherweise Missbräuche gegeben hatte. Er rief weitere Opfer auf, sich zu melden, und versprach «schonungslose Aufklärung». Dem ehemaligen Schüler, der nun plötzlich selbst auf der Anklagebank sass, bezahlte er sogar den Anwalt.

«Psychische Probleme begleiten mich»

Ich hatte in der Folge ein Gespräch mit dem Ordensoberen und einem forensischen Psychiater, der die Sache im Auftrag des Ordens aufklären sollte. Pater G. schrieb mir, er könne sich an die Vorfälle nicht erinnern, deshalb lehnte ich ein Gespräch mit ihm ab. 

Ich wäre gern Arzt geworden, aber letztlich habe ich nach vielen Aushilfsjobs eine Lehre als Koch gemacht. Vor Problemen bin ich ein Leben lang immer davongelaufen, und bis heute begleiten mich psychische Probleme. Die 5000 Franken, die ich von der Genugtuungskommission erhalten habe, machen das auch nicht wett.

Pater Anselm G. kehrte 2013 nach der Konfrontation in der Schweiz nach Indonesien zurück. Das Strafverfahren gegen ihn und die von ihm angestrebte Verleumdungsklage wurden eingestellt. Weitere Konsequenzen hatte die Angelegenheit für ihn nicht. Im Haus der Steyler Missionare in Steinhausen ZG geniesst der inzwischen Hochbetagte bei seinen Besuchen in der Schweiz immer noch Gastrecht. Pater Anselm G. reagierte nicht auf eine Anfrage des Beobachters.

Aufgezeichnet von Thomas Angeli.

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