Als ich nach vier Monaten in Winterthur meine Kiewer Wohnung betreten habe, habe ich mich als Erstes mit meinem Lieblingsparfüm eingesprüht. Ich hatte es kurz vor dem Krieg als Geburtstagsgeschenk für mich selbst gekauft. Es war sehr teuer, und ich hatte mir vorgenommen, es nur zu besonderen Anlässen zu benutzen. Jetzt trage ich es jeden Tag. Jeder Tag ist ein besonderer Anlass.

Leicht gefallen ist uns die Entscheidung nicht, in die Ukraine zurückzukehren. Wir haben über das Datum debattiert, gestritten und jedes Mal gezweifelt, wenn wir Nachrichten von Raketeneinschlägen in Städten fernab der Frontlinie gelesen haben.

Doch uns ist klar geworden: Wenn wir uns nicht bewusst für ein Leben im Ausland auf unbegrenzte Zeit entscheiden, können wir nicht länger in Winterthur bleiben. Für Juli Fahrkarten von Wien, Prag oder Budapest nach Kiew zu finden, erwies sich als unmöglich. Um die Strecke so kurz und einfach wie möglich zu gestalten, entschieden wir uns schliesslich für zwei Busse und einen Zug.

Frühmorgens brachten uns unsere Verwandten zum Busbahnhof in Zürich. Als wir ihnen durch das Busfenster zuwinkten, war es, als würden wir unser Zuhause verlassen. Die Schweiz ist für uns zu einer zweiten Heimat geworden und wird es immer ein Stück weit bleiben. Der Bus wendete, wir fuhren Richtung Norden, und als die Spitze der Winterthurer Stadtkirche und das Ortsschild am Fenster vorbeizogen, wurde mir unvermittelt bewusst, dass dies nach Kiew die Stadt ist, die ich von allen Städten der Welt am besten kenne.

Heimkehr ins Ungewisse

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Kateryna Potapenko kehrt mit ihrer Familie nach Kiew zurück.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

Nach Odessa? Verrückt!

Der erste Bus war fast leer. Wir nahmen im Oberdeck Platz und genossen die Klimaanlage und die Aussicht. Eine unerwartete Fährüberfahrt über den Bodensee, Zeppeline auf dem Weg nach München (die habe ich noch nie gesehen, das war wie etwas aus einem Steampunk-Fantasy-Roman), Windräder und Sonnenkollektoren.

Dann der Nachtbus von Berlin nach Przemyśl. Ich habe noch nicht gehört, dass irgendjemand anderes als Polen den Namen dieser Stadt richtig ausspricht. Wir kamen pünktlich an und hatten noch etwa fünf Stunden Zeit bis zum Zug. Przemyśl ist eine kleine, gemütliche Stadt, nur zwölf Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt – und deshalb der wichtigste Grenzübergang für ukrainische Flüchtlinge. In ihren Strassen hört man fast genauso oft Ukrainisch wie Polnisch. Immer noch gibt es hier viele Freiwillige und am Bahnhof sogar eine Feldküche.

Als wir in der kilometerlangen Schlange für die Passkontrolle standen, stellte sich heraus, dass unser Zug eigentlich nach Odessa fährt und nur drei Waggons in Lemberg abgekoppelt und an den Zug nach Kiew angehängt werden. Meine Mutter war entsetzt: Wie können Menschen mit Kindern (und das waren die meisten) nach Odessa fahren? Verrückt! Dort ist es so gefährlich. Ich erinnerte sie daran, dass die meisten Schweizerinnen und Schweizer wahrscheinlich denken, wir seien verrückt, weil wir nach Kiew zurückkehren. Später, im Zug, trafen wir eine Frau, die nach Charkiw unterwegs war. Es gibt immer jemanden, der sich in noch grössere Gefahr begibt.

Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich in einem Zug einschlafen. Dieser letzte Teil der Reise dauerte etwa vierzehn Stunden (und ich erinnerte mich mit Wehmut an meine längste Zugfahrt in der Schweiz, von Winterthur nach Genf, etwa dreieinhalb Stunden). Die Strassen vor dem Fenster sahen aus wie immer, nur die Ortsschilder fehlten – sie waren zu Kriegsbeginn entfernt worden. Und die Zugfenster sind mit Klebeband versiegelt, so dass sie möglichst wenig Schaden anrichten, wenn sie zerbrechen.

«Meine Freunde schliessen bei jedem Sirenenalarm Wetten ab, wie lange ich durchhalte.»

Kateryna Potapenko

Obwohl der Zug in Przemyśl zwei Stunden zu spät abgefahren war, kamen wir fast pünktlich in Kiew an. Auf dem Bahnsteig standen Männer, die meisten in Uniform, sie hielten Blumen in der Hand und begrüssten Frauen und Kinder. Unter ihnen war unser Vater. Es war so seltsam, zu sehen, dass mein Bruder jetzt fast genauso gross ist wie er.

Als wir in der Nähe des Bahnhofs auf ein Taxi warteten, wollte ich ein Foto von uns machen, um es meiner Tante nach Winterthur zu schicken. Kaum hatte ich mein Handy gezückt, kam ein Uniformierter auf uns zu und las uns sehr höflich, aber bestimmt den Gesetzestext vor, der das Fotografieren in der Nähe von Infrastruktur-Einrichtungen während des Kriegs verbietet.

Das eingepackte Denkmal vor der Oper in Kiew

Das eingepackte Denkmal vor der Oper in Kiew.

Quelle: Privat

In Kiew sieht man Häuser mit versiegelten Fenstern, Sandsäcke und Panzerabwehr-Igel entlang der Strassen (Panzerabwehr! Das klingt immer noch verrückt), noch mehr Menschen in Uniform, mit Farbe unkenntlich gemachte Strassennamen, abgeschirmte Denkmäler.

Und natürlich gibt es die Sirenen. Eine Woche vor unserer Ankunft war es ziemlich ruhig gewesen in der Stadt, aber am Tag – und in der Nacht – unserer Ankunft gab es fünf. Jedes Mal, wenn ich sie höre, gehe ich in den Flur, und meine Freunde schliessen Wetten ab, wie lange ich durchhalte – eine Woche oder doch länger?

Eine seltsame Normalität

Um alle meine Freunde zu treffen, werde ich mindestens einen Monat brauchen. Die meisten hatten sich in anderen Städten der Ukraine in Sicherheit gebracht, kehrten aber zu Beginn des Sommers zurück. Einige sind gar nicht abgereist. Manche wähnen sich im dritten Weltkrieg und leben jeden Tag, als wäre es der letzte, während andere weiterhin Ferien planen, Reparaturen durchführen, Haustiere adoptieren. Aber alle halten sich die Arme schützend über den Kopf, wenn es donnert. Und jeder weiss, welche Hilfsorganisation was sammelt, und nimmt die Ausgaben für die Armee in sein Familienbudget auf.

Das Seltsamste an der Rückkehr nach Kiew aber ist, dass ich mich überhaupt nicht fremd fühle. Es ist, als wäre ich gestern abgereist, als ob immer noch März wäre und nur die globale Erwärmung sich bemerkbar machte. Gleichzeitig kann ich noch immer nicht glauben, dass dies alles mit mir geschieht. Denn da sitze ich an meinem Tisch, in meinem Zimmer, wo sich nichts verändert zu haben scheint, mit meinen Freunden um mich herum, ich diskutiere über die gestiegenen Preise und den neuen Job von jemandem.

Hinter der Wand lebt jetzt eine Familie aus dem besetzten Cherson. Und hinter der anderen Wand – niemand, sie sind nach Grossbritannien gegangen. Und über uns fliegen die Raketen. Wie kann das real sein?

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Zur Person

Kateryna Potapenko

Kateryna Potapenko, 28, ist aus Kiew nach Winterthur zu Verwandten geflüchtet. Sie ist Literaturredaktorin beim Online-Magazin «Cedra» in Kiew und spricht Audiobücher auf Ukrainisch ein. Für den Beobachter erzählt sie in der Serie «Tagebuch einer Flucht» über ihr Leben als Geflüchtete in der Schweiz.

Quelle: private Aufnahme

Zuverlässige Informationen und bewährte Tricks für ukrainische Geflüchtete

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Sprachbarrieren und Gerüchte erschweren es geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern, sich in der Schweiz zurechtzufinden. Als selbst Betroffene kennt Kateryna Potapenko diese Schwierigkeiten bestens. In ihren Videos liefert die Journalistin zuverlässige Informationen zu drängenden Themen, die sie mit eigenen Erfahrungen ergänzt.
Quelle: Beobachter Bewegtbild
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