Der kalte Wind treibt die Leute ins Zelt. Schulter an Schulter sitzen sie auf Festbänken, das wärmt etwas. Auf 1077 Metern kann es kalt werden im Oktober. Alle warten gespannt. Es soll ein besonderer Abend werden. Die Bewegung der Urkantone will sich als ordentlicher Verein organisieren, dem «Aktionsbündnis Urkantone», mit Präsident und Mitgliederbeiträgen. Etwas Beständiges.

160 Leute sind dafür auf den Zuger Ratenpass gezogen, eine typische Mischung Landbevölkerung: Gewerbler, Landwirte, Angestellte. Der Wind bläst durch das auf zwei Seiten offene Zelt – eine Corona-Schutzmassnahme für das Bewirten ohne Zertifikatskontrolle. Die Leute lassen das über sich ergehen, obwohl sie sich genau dagegen wehren. Gegen Massnahmen, die sie als unnötig, widerrechtlich, von oben diktiert kritisieren. Und gegen einen faktischen Impfzwang Impfskepsis Warum sie sich nicht impfen lassen , der die Gesellschaft spalte.

Kampf gegen «Diktatur»

Josef Ender erscheint im T-Shirt mit Schweizerkreuz. Der ehemalige Landmaschinenmechaniker und heutige IT-Unternehmer ist eine treibende Kraft in der Bewegung, die nach einem Treffen an Pfingsten vor einem Jahr auf dem Rütli entstanden ist.

«Von den Urkantonen geht eine besondere Kraft aus», sagt der 51-Jährige. Das sei schon vor 700 Jahren so gewesen. «Wir sind halt etwas bodenständiger und weniger obrigkeitshörig.» Die Urkantone hatten schon das erste Covid-Gesetz im Juni abgelehnt. «Die Macht muss im November wieder dem Volk, dem Souverän, zurückgegeben werden. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass das Recht einfach ausgehebelt wird», sagt Ender.

Innert kürzester Zeit brachten die Massnahmenkritiker ein zweites Referendum gegen das Covid-Gesetz 11 Fragen und Antworten Darum geht es bei der zweiten Abstimmung über das Covid-Gesetz zustande. Seit Monaten demonstrieren sie: die urchigen Urkantone, die von Jungen getriebenen Mass-Voll, die folkloristischen Trychler, die libertären Freunde der Verfassung und viele mehr.

«Die Bewegung ist äusserst vielfältig. Wenn es um andere Themen geht, sind Gemeinsamkeiten schwer zu erkennen», sagt der Sozialwissenschaftler und Szenekenner Marko Kovic. Es gebe aber einen gemeinsamen Nenner: den Kampf gegen einen als diktatorisch empfundenen Staat, der mit den mächtigen Konzernen das Volk entmachten wolle. «Diese Erzählung kann man über fast jedes neue Thema stülpen, das uns beschäftigen wird», sagt Kovic. Ist da eine neue Kraft entstanden, die die Schweiz über die Pandemie hinaus prägen wird?

Polizisten bedrängt und Torte im Gesicht

Ein kalter Herbstabend am Zürcher Hauptbahnhof. «Hallo, weisst du schon, was du stimmen wirst?», fragt Viola Rossi. Die 23-Jährige versucht, mit Passanten ins Gespräch zu kommen, und verteilt Flyer gegen das Covid-Gesetz. «Bei den Jungen fange ich damit an, wie das Zertifikat uns im Ausgang und an der Uni einschränkt, bei den Älteren beginne ich eher mit den Bürgerrechten oder der Machtkonzentration im Bundesrat.»

Rossi ist Co-Präsidentin von Mass-Voll, der selbst ernannten Jugendbewegung der Massnahmenkritiker. Die Gruppe mischt seit Beginn bei den Protesten mit, organisiert aber auch Volleyballnächte und Wanderwochenenden. Viola Rossi war Politik bis zur Pandemie egal. Wählen ging sie nie, abstimmen selten. Jetzt ist sie Aktivistin. Stundenlang flyert sie im Nieselregen, schleppt kistenweise Infomaterial herum. In Luzern, bei der öffentlichen Bundesratssitzung, wedelte sie einem Uniformierten so lange mit einem Verfassungstext vor dem Gesicht herum, bis der sie wegschubste. In Winterthur bekam Rossi eine Torte ins Gesicht.

«Wir Jungen werden unverhältnismässig eingeschränkt. Wenn wir das kritisieren, werden wir als unsolidarisch diffamiert», sagt die Luzerner Studentin für Soziale Arbeit. So denkt auch Josef Ender, der Urkantönler. Wie ein Mantra schildert er immer wieder die gleiche Geschichte: «Wir wollten eine Podiumsveranstaltung zum Zertifikat durchführen. Wir schrieben alle nationalen Parlamentarier und Exekutiven der Kantone an. Mit Ausnahme des Schwyzer Mitte-Ständerats Othmar Reichmuth wollte kein Befürworter mit uns reden.»

Jenseits von Links und Rechts

Basler Soziologen haben über 1000 Protestierende in Telegram-Chat-Gruppen in der Schweiz und in Deutschland befragt und Gemeinsamkeiten gefunden. Die mehrheitlich gebildeten Angehörigen der Mittelschicht verorten sich ausserhalb der klassischen Kategorien von links und rechts. Sie sehen sich als Kritiker, die nicht nur während Corona zum Schweigen gebracht werden.

Das Selbstverständnis der Bewegten umschreiben die Forscher so: «Ich lasse mich nicht täuschen» (von den Medien), «Ich lasse mich nicht einschüchtern» (von der Panikmache durch Politiker und Wissenschaftler) und «Ich lasse mir nichts vorschreiben» (von einem Kontroll- und Überwachungsstaat).

Für den Urkantönler Ender und die Mass-volle Rossi hat die Bewegung das Zeug, über die Pandemie hinaus eine Kraft zu bleiben. Strukturen seien gewachsen, Freundschaften entstanden, vor allem aber ein Bewusstsein, dass Veränderungen nötig seien.

«Wissen Sie, ich habe noch nie so viele Leute kennengelernt wie während der Pandemie», sagt Ender. Das sei eine schöne Erfahrung, die einen zum Nachdenken anrege. «Wir müssen zurückkehren zu Gemeinschaften, die sich gegenseitig unterstützen, wo man nicht einfach so vor sich hinlebt.» Das Regionale müsse wichtiger werden, das Vertrauen in die Nachbarn.

In solchen Idealen erkennen Soziologen «typische romantische Motive», wie sie in vielen jungen Bewegungen auftauchen. «Einerseits gibt es einen starken positiven Bezug auf die Natur, auf affektive Vergemeinschaftung sowie allgemein auf Spiritualität und ganzheitliches Denken», folgern die Autoren der Basler Studie. Auch das Bild des heroischen Widerstandskämpfers, der bereit ist, mutig für seine Sache einzustehen und grosse Opfer zu bringen, trage solche Züge.

Ein Selbstverständnis, das die Bewegung auch gegen wissenschaftliche Argumente immunisiert. Der gemeinsame Kampf scheint wichtiger als die kritische Auseinandersetzung mit zum Teil wirren Positionen innerhalb der Bewegung. Der Kampf für die «freie Meinung» berauscht – und gibt so auch extremistischen Positionen Raum.

Niemand widerspricht

Mitte Oktober in Rapperswil-Jona SG, die Sonne brennt. Rund 3000 Massnahmenkritiker versammeln sich auf dem Parkplatz beim Eishockeystadion. Die Szenerie erinnert an ein Festival. Junge Mütter mit Rasta-Frisuren stehen neben Altherren in weissen Hosen und dem Lacoste-Pulli über der Schul- ter, Seconda-Grüppchen lassen sich von Männern in Sennenhemden und «Krummen» im Mund einnebeln.

Josef Ender steht auf der Bühne und redet gegen die Massnahmen an. Dann begrüsst er den Schwyzer Kantonsrat David Beeler. «Bei uns stellt ihm niemand das Mikrofon ab», verspricht Ender. Einige Tage zuvor hatte Beeler für einen Eklat im Parlament gesorgt, als er sich weigerte, seine krassen Ausführungen zur Pandemie zu stoppen. In Rapperswil geht er noch weiter, spricht von «Tausenden Impftoten», fordert dazu auf, den Bundesrat vor ein «Kriegsgericht» zu stellen, und behauptet, Polizisten würden auf Demonstrierende «schiessen». Aus dem Publikum gibt es freundlichen, wenn auch nicht tosenden Applaus. Keiner der Veranstalter, weder die Urkantone noch Mass-Voll noch die Gruppe Stiller Protest, distanzieren sich von Beelers Tiraden.

Sie betonen stets, dass sie selber für einen sachlichen Dialog stünden und jede Form von Gewalt ablehnten. Doch es geht auch anders: Josef Ender sagt auf der Bühne, er werde jetzt den alternativen Fernsehmacher Daniel Stricker zitieren – «das sind also nicht meine Worte» –, und trägt dann dessen Auslassungen und Flüche über die Medien vor.

Kampf gegen die Staatsmacht

Während Ender den bodenständigen Strahlemann gibt, ist Stricker der Prediger mit eigenem Sender. Er selbst bezeichnet sich als «Aufklärer». An den Demos kann er sich vor Fans kaum retten. Alle paar Schritte wird er für gemeinsame Selfies angefragt. Viele tragen Shirts mit dem Schriftzug «Stricker.TV». Der Internetsender hat sich in der Szene als Gegenstimme zu den angeblich gleichgeschalteten und gesteuerten «Staatsmedien» etabliert. In einer eigenen «Tagesschau» kommentiert Stricker oft wütend die Corona-Politik.

Soziologe Marko Kovic hat sich von ihm interviewen lassen. Er hält Strickers «emotionalisierte und extremistische Tonalität» für gefährlich. Sie bilde einen Nährboden für Radikalisierung und Hass auf Andersdenkende.

«Vor Corona war ich linksliberal, jetzt notgedrungen libertär», sagt Stricker. «Ich unterstütze alles, was die Macht des Staates zurückbindet.» Bei der momentanen Politik des Bundesrats müsse man sich entscheiden: «Entweder ist man Regierungsfreund oder Volksfreund.»

Das erinnert an die libertäre Bewegung, die mit der 2015 eingereichten «No Billag»-Initiative das öffentlich-rechtliche Fernsehen attackierte und scheinbar aus dem Nichts entstanden war. Die meist jungen Aktivisten kündigten damals weitere Angriffe auf den Staat an. Nach ihrer Niederlage an der Urne 2018 wurde es aber ruhig um sie.

Wo hat es noch Platz für eine neue Kraft?

Auch die aktuelle Bewegung will den politischen Kampf weitertragen, über Corona hinaus. Sie mobilisierte bereits gegen das Anti-Terror-Gesetz. Mit noch grösserem Engagement will sie das Mediengesetz ins Visier nehmen, das die finanziell angeschlagenen Medien stärker mit Staatsgeldern fördern will. Die Freunde der Verfassung planen zudem eine Initiative, die es ermöglichen soll, ohne Einbezug des Parlaments über Abstimmungen Gesetze festzuschreiben. Sie wollen gemäss ihrem Leitbild die direkte Demokratie «vollenden» und die Volksrechte ausbauen.

Politologen sind allerdings skeptisch, ob die Kritiker über die Pandemie hinaus eine politische Kraft bleiben werden. «Die Erzählung von den Eliten in Bern und der Entfremdung vom normalen Volk ist ja nicht neu. Die SVP setzt schon lange auf dieses Narrativ», sagt etwa die Zürcher Politologin Sarah Bütikofer von der Forschungsstelle Sotomo.

Das Pandemiethema habe wohl eine besondere Qualität, weil der Konflikt tief in den Alltag und ins Private reiche, dort auch Spaltungen provoziere. «Das begünstigt die Mobilisierung. Bei anderen politischen Fragen fehlt diese direkte Alltagsbetroffenheit häufig», sagt Bütikofer. Die aktuelle Machtballung bei der Regierung, das staatlich aufgezwungene Verhalten und die Impfaufforderungen seien der Pandemie geschuldet. Es handle sich um eine Bedrohung, die sehr schnelles Handeln erfordere. Die Politik müsse aber nur selten solche Notfallsituationen bewältigen.

«Die Schweizer Politik ist eigentlich sehr ausdifferenziert, viele unterschiedliche Positionen sind vertreten, und man feilt lange an gemeinsamen Lösungen oder Kompromissen», sagt Bütikofer. Wo im politischen Spektrum hat es überhaupt noch Platz für eine neue Kraft? «Nur der linkskonservative Bereich ist nicht gut besetzt. Aber dort sehen sich die meisten Aktivisten wohl nicht.»

Spagat der SVP

Als einzige Partei ist die SVP auf den Kritikerzug aufgesprungen. In vielen Gemeinden und Kantonen jedoch, wo SVP-Vertreter in der Regierung sind, tragen diese den offiziellen Weg mit. «Der Impfgraben ist auch ein wenig Stadt-Land-Graben. Das zeigte sich schon früher bei entsprechenden Vorlagen. Dass sich die SVP jetzt um die Kritiker kümmert, ist nicht so erstaunlich», sagt Bütikofer. Die Partei könne aus der Bewegung Kapital schlagen.

Diese Einschätzung stützt auch die Basler Befragung von Massnahmenkritikern. Danach haben 33 Prozent bisher SVP gewählt, was etwa der nationalen Stärke der Partei entspricht. Geht es aber um künftige Wahlabsichten, lässt die Partei das rot-grüne Lager weit hinter sich: 43 Prozent der Befragten wollen bei der nächsten Wahl SVP einlegen.

Die SVP selbst übt sich derweil im Spagat zwischen Regierungsverantwortung und Massnahmenkritik. Es sind eher Hinterbänkler wie David Beeler oder der Schwyzer Nationalrat Pirmin Schwander, die aktiv in der Bewegung mitmischen. Schwergewichte wie Ueli Maurer oder Christoph Blocher flirten lieber aus der Distanz – mit dem Tragen eines Trychler-Shirts.

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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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