Beobachter: Der Begriff «Kindswohl» ist ein gängiger Begriff im Recht. Wieso spricht niemand vom «Alterswohl»?
Christiana Fountoulakis: Seit etwa 20, 30 Jahren schaut man das ganze Zivilrecht unter dem Aspekt des Kindswohls an – bei Scheidungen, bezüglich Sorgerecht und so weiter. Das ist auch richtig so. Aber es gibt immer mehr ältere Menschen, und das wird völlig ausgeblendet. Ab 18 Jahren gilt man nicht mehr als besonders schützenswert, und das geht dann so weiter, bis man hundert ist. Über den Schutz der älteren Person steht nichts in der Verfassung – das wird sich auf Dauer angesichts der Grösse der Thematik ändern müssen.

Beobachter: Kinder sind positiv besetzt, das Alter nicht. Damit verbindet man Krankheit oder Zerfall, man setzt sich nicht gern damit auseinander. Hat man deshalb das Thema «Alter» im Recht beiseitegeschoben?
Fountoulakis: Ja, eindeutig. Niemand wird gern mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Und wenn man sich damit auseinandersetzt, dann rückt das Thema halt ein bisschen näher. Es ist viel charmanter, sich mit Kinderfragen oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu beschäftigen, da geht es schliesslich um neues Leben. Altes Leben ist weniger reizvoll.

Beobachter: Wo steht die Schweiz diesbezüglich im internationalen Vergleich?
Fountoulakis: Weltweit hinken wir ziemlich hinterher, was die Altersforschung anbelangt. In den USA wird dazu seit den 1960er Jahren intensiv geforscht, «Alter» ist dort eine fest etablierte Branche. Bei uns noch am ehesten in der Medizin, wobei Gerontologen das geringste Ansehen innerhalb der Ärzteschaft haben.

Beobachter: Wir haben also ein Wahrnehmungsproblem.
Fountoulakis
: Genau. Wenn übers Alter gesprochen wird, ob in der Politik oder der Wirtschaft, dann meist über die Finanzierung der Pflege, wie und ob wir uns das leisten können. Ich bin überzeugt, dass man in 20 Jahren nicht verstehen wird, wieso das Alter bei uns kein grosses und zentrales Thema war. Auch unter den Juristen.

Beobachter
: Ihr Thema ist Alter im Privatrecht. Das heisst?
Fountoulakis
: Zum Beispiel die ganze Familienthematik im Arbeitsbereich. Wie soll man Pflege und Berufstätigkeit vereinen? Das ist ein Riesenproblem. Plötzlich betrifft das Thema alle, nicht nur die Alten, sondern auch die Angehörigen. Mir schwebt ein Modell vor, in dem man als Arbeitnehmer eine Auszeit für die Pflege der Eltern oder des Partners nehmen oder zumindest das Arbeitspensum reduzieren kann – mit garantiertem Kündigungsschutz während dieser Zeit.

Beobachter
: Schwer vorstellbar, dass das die Arbeitgeber schlucken.
Fountoulakis
: Mag sein. Doch es wären ja auch andere Modelle denkbar, etwa eines wie in Deutschland, das dort nächstes Jahr eingeführt wird: eine Auszeit oder Reduktion mit aufgestocktem Lohn. Das heisst, man reduziert zum Beispiel von 100 auf 50 Prozent und erhält dann während eines Jahres trotzdem 75 Prozent des Gehalts. Nach der Rückkehr arbeitet man wieder 100 Prozent, verdient aber ein Jahr lang immer noch bloss 75 Prozent. Aber Sie haben schon recht, die Arbeitgeber hier werden auch bei einer solchen Lösung natürlich ausrufen: «Wer soll das finanzieren? Das geht doch nicht, ich muss dann zusätzlich jemanden einstellen und zwei Löhne bezahlen…»

Quelle: Xavier Voirol

Beobachter: Wie reagieren Sie darauf?
Fountoulakis
: Wenn man will, dann ginge das schon, man müsste es nur verbindlich regeln. Zum Beispiel mit einem Vorfinanzierungsmodell: Der Arbeitgeber erhält zinslos einen Kredit und finanziert damit die Lohnaufstockung und die potentiell neu einzustellende Person. Der Arbeitgeber fragt dann natürlich sofort, ob er eine Garantie habe, dass der Arbeitnehmer nach der Pflegephase wieder zurückkommt. Nein, die hat er nicht. Aber auch das könnte geregelt werden, nämlich mit einer Versicherung: Die Prämien zahlt der Arbeitnehmer für eine potentielle Pflegezeit, das wäre keine Riesensumme, denn es betrifft ja in der Regel nur etwa ein bis zwei Jahre. Über solche Themen muss man reden. Wollen wir nur einen Kündigungsschutz oder auch Lohnaufstockungen wie in Deutschland? Soll das Ganze freiwillig sein oder gesetzlich geregelt werden? Das sind wichtige Fragen für die Zukunft.

Beobachter
: Und es klingt alles auch ziemlich utopisch…
Fountoulakis
: Alle neuen Ideen klingen zuerst etwas seltsam. Vor 20 Jahren wäre es auch undenkbar gewesen, dass heute die Arbeitgeber eine Mutterschaftsversicherung zahlen und es sogar vereinzelt Vaterschaftsurlaub gibt. In den USA gibt es heute beispielsweise schon Tagesstätten für Alte in den Firmen – analog zu Krippen für die Kleinen. Das Pendel schlägt eindeutig in diese Richtung, es braucht mehr Vorkehrungen fürs Alter, die Diskussion muss angeheizt werden. Nur schon in Deutschland sind sie da viel weiter, und das ist immerhin unser Nachbarland. Also können auch wir vor dieser Entwicklung nicht einfach die Augen verschliessen.

Beobachter
: Jetzt reden wir die ganze Zeit schon übers Alter. Ab wann ist man eigentlich alt?
Fountoulakis
: Medizinisch gesehen fängt das Alter ab etwa 60 Jahren an. Als «Best Agers» bezeichnet man Menschen zwischen 60 und 75 Jahren, bis 85 gehts dann meist noch relativ gut, ab 85 Jahren beginnt die Pflegephase. Volkswirtschaftlich redet man meist von den Frischpensionierten, den jungen und mittleren Alten bis etwa 80 Jahren, und ab 80 ist man «alt alt». Aus juristischer Sicht ist es bei den «alten Alten» vergleichsweise einfach: Man schützt sie, falls sie irgendwann nicht mehr handlungsfähig sind, indem man ihnen einen Beistand gibt. Ich fokussiere mich deshalb vor allem auf die «Best Agers», die meist noch absolut fit sind, aber vielleicht doch schon gewisse Merkmale von Leuten um die 40 nicht mehr haben.

Quelle: Xavier Voirol

Beobachter: Die «Best Agers» sind ja auch längst vom Markt als gute Kunden entdeckt worden – inwiefern brauchen sie denn rechtliche Hilfe?
Fountoulakis: Die ältere Person als Konsument, das ist mein Ansatz. Es wird einfach davon ausgegangen, dass ältere Menschen die gleichen Wahrnehmungsfähigkeiten und die gleiche Willensstärke haben wie die jüngeren. In der Schweiz gehen wir von einem sehr strengen Konsumentenbegriff aus: Der Konsument ist vernünftig, einsichtsfähig, informiert, durchschnittlich intelligent und relativ widerstandsfähig. Bei einer alten Person ist das aber nicht mehr unbedingt der Fall. Zum Beispiel meine 75-jährige Grosstante: Wenn bei ihr ein Hausierer an der Tür klingelt, freut sie sich über die Abwechslung, übers Plaudern. Und schon kauft sie ihm vermutlich Dinge ab, die sie gar nicht braucht. Sie ist weniger widerstandsfähig, und da muss sie geschützt werden. Natürlich gibt es heute schon das siebentägige Widerrufsrecht, aber das nützt wenig, wenn grad niemand da ist, der sich der Sache annimmt. Es braucht etwas anderes.

Beobachter
: Nämlich?
Fountoulakis
: Zum Beispiel einen differenzierteren Konsumentenbegriff fürs Alter. Man sollte darüber nachdenken, einerseits in derartigen Fällen die vertragliche Bindung abzuschwächen und andererseits den Schutz über das UWG (Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) zu stärken. Natürlich sind die Details schwierig – aber deshalb forsche ich ja daran.

Beobachter
: «Besser schützen» klingt gut. Aber die heutigen 70-Jährigen könnten auch sagen: «Gehts noch? Das brauchen wir doch nicht, die wollen uns entmündigen!»
Fountoulakis
: Es geht doch überhaupt nicht um Bevormundung, sondern um dem Alter angemessenen Schutz. Es muss auch nicht alles unbedingt mit einem Gesetz geregelt werden, aber es wäre schon ein grosser Schritt, wenn die Rechtsprechung je nach Alter von unterschiedlichen Konsumentenbildern ausginge und die Konsumenten eben härter oder weicher anfasst.

Beobachter
: Hat das auch etwas damit zu tun, den Betagten mit Würde zu begegnen? Sie nennen Ihr Forschungsprojekt ja «Alter und Würde».
Fountoulakis
: Je länger ich dazu forsche, umso mehr komme ich vom Begriff «Würde» weg. Das ist einfach ein zu grosses Wort, kaum fassbar, es gibt tausend Definitionen dafür. Das ist mir zu heikel. Als Juristin liebe ich klare Begriffe. Einen Ersatzbegriff habe ich aber noch nicht.

Beobachter
: Wo sehen Sie neben dem Konsum rechtlich weiteren Handlungsbedarf?
Fountoulakis
: Beim Erbrecht. Heute macht der Anteil der Erben unter 50 Jahren nur noch etwa einen Viertel aus. Wir haben also die Situation, dass Vermögen je länger, je mehr von sehr alten auf alte Personen weitervererbt werden. Und wenn es um das Überlassen von Vermögen an jüngere Personen geht, wird gleichzeitig das Erbrecht vom Schenkungsrecht deutlich zurückgedrängt. Da drängt es sich auf, dieses erbrechtliche Konzept kritisch zu hinterfragen. Das beschäftigt schliesslich jeden.