1995 wurde eine heute 62-jährige Frau von einem Motorrad angefahren. An den Folgen leidet sie noch immer: Eine Persönlichkeitsveränderung, Kopfweh und Nackenschmerzen verunmöglichen ihr die Arbeit als Coiffeuse. Die Unfallversicherung der Frau gewährte zu Beginn einen Taggeldanspruch, wollte die Leistungen nach eineinhalb Jahren jedoch kontinuierlich reduzieren und später sogar einstellen. Das Zürcher Sozialversicherungsgericht stellte sich aber hinter die IV-Rentnerin und wies das geplante Vorgehen der Unfallversicherung 2005 zurück.

Update vom 2. August 2017: IV-Bezüger werden vorläufig nicht mehr observiert

Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat die Stellen der Invalidenversicherung angewiesen, vorläufig keine IV-Bezüger mehr observieren zu lassen. Zuvor war das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass für eine Observation keine genügend klare und detaillierte gesetzliche Grundlage besteht.

Das Bundesgericht trägt damit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechnung, der im Oktober 2016 entschieden hatte, dass es keine ausreichende Gesetzesgrundlage für eine Observation durch die Unfallversicherung gibt. Dies gelte auch für die Invalidenversicherung, so das Bundesgericht in seinem Entscheid vom 14. Juli 2017 (9C_806/2016).

Im konkreten Fall eines IV-Bezügers im Kanton Zug kam das Bundesgericht allerdings zum Ergebnis, dass der Observationsbericht dennoch als Beweis verwertet werden durfte. Hier habe das öffentliche Interesse überwogen, einen Versicherungsmissbrauch zu verhindern. Den damit verbundenen Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen hält das Bundesgericht für zulässig, weil folgende Bedingungen erfüllt waren:

  • Die Person wurde nur im öffentlichen Raum überwacht.
  • Die Observation wurde wegen ausgewiesener Zweifel angeordnet.
  • Die Observation dauert an insgesamt vier Tagen zwischen fünf und neun Stunden, war also nicht ständig.

Das Bundesamt für Sozialversicherung kündigte an, die Observationen wieder aufzunehmen, sobald die vorgesehene gesetzliche Grundlage in Kraft getreten ist.

Da die Betroffene eine erneute Abklärung verweigerte, ging die Unfallversicherung einen Schritt weiter und engagierte einen Privatdetektiv. Ein umstrittenes Vorgehen: «Wir haben nichts gegen eine gründliche Abklärung von Versicherungsansprüchen einzuwenden. Gerade bei der Überwachung mit Privatdetektiven besteht nach unserer Erfahrung aber eine grosse Gefahr von voreiligen und willkürlichen Schlussfolgerungen über die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person», erklärt Andrea Mengis, Advokatin beim gemeinnützigen Verein Procap, der sich für die Rechte von Menschen mit Handicap einsetzt.

Systematische Überwachung – dürfen die das?

Die Betroffene wurde an vier Tagen überwacht und dabei gefilmt, wie sie problemlos Einkaufstaschen schleppte und die Arme über den Kopf hob – Dinge, die ihr laut dem medizinischen Bericht nicht möglich sind. Das Foto- und Videomaterial bestätigte die Unfallversicherung in ihrer Vermutung so kürzte diese in der Folge die Leistungen. Das Bundesgericht unterstützte dieses Vorgehen: Die Voraussetzungen für eine Überwachung der Versicherten seien durch ihr widersprüchliches Verhalten gegeben gewesen.

Das wollte die IV-Rentnerin nicht akzeptieren: Gegen eine unrechtmässige Verletzung ihrer Privatsphäre reichte sie Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein.

Der Strassburger Gerichtshof kritisiert die Schweiz

In seinem Urteil vom 18. Oktober gab der Strassburger Gerichtshof der IV-Rentnerin recht: Sechs der sieben Richter waren der Meinung, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) klar verletzt habe. Sowohl für die Dauer der Überwachung als auch für die Speicherung, den Zugang und den Gebrauch der gesammelten Daten fehle eine rechtliche Grundlage. Die IV-Rentnerin bekomme deshalb 8000 Euro als Genugtuung und 15'000 Euro für die Auslagen, die im Zusammenhang mit dem Verfahren entstanden sind.

Dieses Urteil habe weitreichende Konsequenzen, ist Andrea Mengis überzeugt: «Wir von Procap sind der Meinung, dass die Sozialversicherungen nun keine Privatdetektive zur Überwachung von Versicherten mehr einsetzen dürfen, solange die dafür nötigen gesetzlichen Grundlagen nicht geschaffen wurden.»

Erste Versicherungen reagieren bereits auf das Urteil, so will beispielsweise die Suva vorerst auf den Einsatz von Privatdetektiven verzichten, wie der Tages-Anzeiger berichtete.

Auch die IV und die Sozialen Dienste führen Observationen durch

Der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte belangt zwar vorerst nur die Unfallversicherer. Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, rät aber auch der Invalidenversicherung und der Sozialhilfe dringend über die Bücher zu gehen. Auch sie führen bei Missbrauchsverdacht Observationen durch – klar und sauber geregelt sind diese Überwachungen aber weder bei der IV noch bei den Sozialen Diensten.

«Eine Überwachung ist ein Eingriff in die Privatsphäre und als solcher immer Ultima Ratio», hält Gächter fest. «Optimum für unseren Rechtsstaat wäre eine richterliche Verfügung für jede einzelne Observierung. Nur leider ist das bei der Vielzahl der Versicherungsfälle nicht umsetzbar. Eine klare gesetzliche Grundlage wäre aber schon ein grosser Fortschritt.»

Für die IV und alle anderen Sozialversicherungen hat der Bundesrat 2008 einen wünschenswerten, sauberen Vorschlag vorgelegt. Wäre es damals nach dem Bundesrat gegangen, hätten die observierten Personen jeweils nachträglich über die Überwachung informiert werden müssen und es wäre auch eindeutig festgehalten, wann und wie solche Observationen durchzuführen sind. Punkte, die für Sozialversicherungsrechtler Thomas Gächter zwingend juristisch verankert gehören.

Zumindest damals hatte das Parlament aber von einer solchen Regelung noch nichts wissen wollen.

Anina Frischknecht