Beobachter: «Einmal Opfer, immer Opfer», heisst es. Stimmt das?
Frank Urbaniok: Nein, so absolut stimmt das nicht. Es gibt zu unterschiedliche Biographien. Es gibt die Personen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren, da passiert kaum wieder etwas. Aber es gibt auch die, die beispielsweise als Kind misshandelt wurden und dann später wieder in alte Muster fallen und eine missbrauchende Beziehung eingehen. Allerdings: Menschen, die schon traumatisiert sind, die Opfer geworden sind, für die stellt das immer einen grossen Einschnitt ins Leben und ins Verhalten dar. Nicht nur das Opfer ist betroffen, sondern auch seine Angehörigen und Freunde.

Beobachter: «Einmal Täter, immer Täter»: Stimmt das?
Urbaniok: Auch die Täterschaft ist unterschiedlich. Man unterscheidet zwischen Situationstätern und Persönlichkeitstätern. Bei Letzteren ist die Wiederholungsgefahr sehr gross. Denn bei Persönlichkeitstätern spielen soziale Ursachen oder Lebensumstände kaum eine Rolle für das Deliktverhalten. Zentral sind hier in der Persönlichkeit fest verankerte und risikorelevante Eigenschaften. Es handelt sich zum Beispiel um Menschen, die leicht kränkbar sind oder die immer bewundert werden wollen. Sobald sie das nicht mehr werden, werden sie gefährlich, weil dieses Verhaltensmuster in ihrer Persönlichkeit liegt.

Beobachter: Das heisst?
Urbaniok: Frühere Straftaten sind statistisch der beste Indikator für künftige Straftaten: Je häufiger jemand straffällig geworden ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder straffällig wird.

Beobachter: Die Täter-Opfer-Beziehung: Bleibt die eigentlich für immer bestehen?
Urbaniok: Wenn die Tat sehr traumatisierend war und im Opfer noch sehr lebendig ist, dann ist auch der Täter lebendig. Schlecht ist auch, wenn das Opfer keine Informationen über den Täter im Strafvollzug hat, wenn alles eine Blackbox ist.

Beobachter: Was kann man dagegen tun?
Urbaniok: Das Ziel einer Traumaverarbeitung ist immer, dass man mit der Tat abschliessen kann – und der Täter damit auch nicht mehr lebendig in einem ist. Oft ist eine adäquate psychotherapeutische Behandlung angesagt und eben professionelle Informationen über den Täter. Die Erinnerung bleibt, aber der Einfluss der Tat auf das aktuelle Leben sollte sich stark vermindern.

Beobachter: In unserem Fall der Familie Schneider sind die Angehörigen des Mordopfers vom Täter vor Gericht mit dem Tod bedroht worden. Wie ernst muss man solche Drohungen nehmen?
Urbaniok: 95 Prozent aller Drohungen sind harmlos, somit nur fünf Prozent wirklich gefährlich. Das muss man einschätzen können, das ist Teil einer Risikobeurteilung. Es gibt bei Drohungen zwei Felder, die man anschauen muss. Das eine ist die Art der Drohung, zum Beispiel der Konkretisierungsgrad: je konkreter, umso schlechter. Das zweite ist die Analyse des Bedrohers. Wenn der Täter Persönlichkeitsmerkmale aufweist, die mit Risiken für Straftaten verbunden sind, wie paranoides Erleben, dann ist auch die Drohung eher gefährlich.

Beobachter: Wie lange dauert eine Risikobeurteilung?
Urbaniok: Zwischen 15 und 90 Stunden, je nach Vorgeschichte und Komplexität des Falls.

Beobachter: Sprengt es nicht den Rahmen, wenn bei jeder Drohung eine Risikoanalyse vorgenommen wird?
Urbaniok: Ich bin überhaupt kein Fan davon, jeden zu begutachten. Das muss gezielt gemacht werden. Meistens haben Menschen ein ganz gutes Gefühl dafür, ob es sich um eine gefährliche Drohung handelt oder nicht. Oft sagen Betroffene: Den zeige ich lieber nicht an, sonst wird er doch nur noch gefährlicher. Wenn man einen solchen Gedanken hat, dann ist es genau so ein Fall, den man anzeigen muss, das ist ein guter Gradmesser. Bei der Polizei müssen dann Spezialisten entscheiden, wie ernst die Drohung wirklich zu nehmen ist. Nur die Spitze dieses Eisbergs landet schliesslich zur Abklärung bei uns.

Beobachter: Welche menschlichen Eigenschaften stufen Sie als besonders gefährlich ein?
Urbaniok: Viele. Wir nennen das prognostische Syndrome, eine Kombination von Eigenschaften, die Menschen gefährlich machen. Zum Beispiel: Pädosexualität, Sadismus, dissoziales Verhalten. Menschen mit letzterer Eigenschaft sind alle Regeln und Normen egal. Es gibt etwa 50 solcher Unterteilungen.

Beobachter: Patricia Hermann, ein Opfer in einem unserer Fallbeispiele, leidet vor allem darunter, dass sie lange keine Informationen über den Peiniger und seinen Aufenthaltsort erhalten hat.
Urbaniok: Opfer haben ein Recht auf Information, etwa über Vollzugslockerungen. Es geht auch um Verhältnismässigkeit: In einem solchen Fall würde ich immer das Traumatisierungspotential des Opfers höher gewichten. Sie müsste umfassend informiert werden.

Beobachter: Müssten die Informationen von den Strafvollzugsbehörden kommen, oder muss das Opfer nachfragen?
Urbaniok: Vom Grundsatz her sollte die Vollzugsbehörde von sich aus Kontakt mit den Opfern aufnehmen und Informationen anbieten. Schon im Strafverfahren orientieren Polizei oder Staatsanwaltschaft über die Rechte des Opfers. Wenn das Opfer dann Informationen über den Strafvollzug wünscht, müssen die Behörden später von sich aus Kontakt mit dem Opfer aufnehmen. Ist das nicht explizit dokumentiert, hat die Vollzugsbehörde einen Ermessensspielraum. Dabei kann eine Kontaktaufnahme in Einzelfällen heikel sein, weil das Opfer vielleicht für sich die Strategie hat, nie mehr etwas mit dem Fall zu tun zu haben. In solchen Fällen müsste das Informationsangebot zum Beispiel über den Therapeuten laufen.

Beobachter: Ist es überhaupt gut für ein Opfer, alles zu wissen?
Urbaniok: Das ist sehr unterschiedlich: Manche Opfer möchten nie wieder etwas davon hören, andere wollen maximale Transparenz.

Beobachter: Wie kann man sicherstellen, dass die Opfer die Informationen über die Täter nicht weitergeben?
Urbaniok: Die Informationen müssen so sein, dass sie offiziell kommunizierbar sind, also keine zu persönlichen Dinge enthalten. Sonst droht zum Beispiel der Internetpranger, und das wäre fatal. Menschen, die nicht direkt betroffen sind, neigen dazu, sich stark zu empören, und verursachen dadurch manchmal eine regelrechte Pogromstimmung. Die Auswirkungen für die betroffenen Täter können sehr schädlich sein und dadurch auch risikosteigernd – für Folgetaten.

Beobachter: Wie kann man einen schonenden Umgang mit Opfern vor Gericht gewährleisten? Patricia Hermann ist vor Gericht beinahe zusammengebrochen, als der gegnerische Anwalt sie im Detail zu den Vergewaltigungen auseinandergenommen hat.
Urbaniok: Der Anwalt darf das Beste für seinen Mandanten herausholen, auch wenn die Taktik in meinen Augen manchmal moralisch verwerflich ist. Eine anwaltliche Strategie bei Sexualstraftätern ist natürlich, die Glaubwürdigkeit des Opfers zu erschüttern, da gibt es ganze Handbücher dazu, wie man ein Opfer in Widersprüche verwickeln und unglaubwürdig machen kann. Das ist natürlich ein Problem.

Beobachter: Wie kann man ein Opfer davor schützen?
Urbaniok: Durch gute Opferanwältinnen und Beratungsstellen. Die Vermeidung von Direktkonfrontation zwischen Täter und Opfer ist auch wichtig, zum Beispiel mittels Videoaufnahmen. Mit Opfern umgehen heisst: alles zu tun, um nicht wieder Grenzen zu verletzen. Das muss die oberste Leitlinie sein.

Beobachter: Welches sind die dringendsten Massnahmen, die zum Schutz des Opfers ergriffen werden müssten?
Urbaniok: Bessere Informationsrechte für Opfer, denn Datenschutz darf kein Täterschutz sein. Im neuen Strafregistergesetz werden Vorstrafen nach spätestens zehn Jahren entfernt, sind also auch für Profis nicht mehr sichtbar. Das ist dringend revisionsbedürftig. Für Risikoabschätzungen ist es fatal, denn ich muss alles über den Täter wissen, ich muss wissen, ob er mit 17 Jahren schon schwere Delikte verübt hat. Wir haben heute Strafregister von Leuten, die schwerste Straftaten begangen haben und deren Register leer sind. Für die Prävention ist das verheerend, das muss man sofort ändern.

Beobachter: Und darüber hinaus?
Urbaniok: Den indirekten Opferschutz ausbauen: Risikobeurteilungen von Tätern und Therapien für Täter werden in der Schweiz regional sehr unterschiedlich gehandhabt. Man sollte diese Massnahmen flächendeckend einführen. Wir in Zürich machen solche Beurteilungen nun schon seit zwölf Jahren – und zwar sehr erfolgreich. Von den Personen, die wir untersucht haben, hat seither niemand mehr eine schwere Gewalttat verübt, es greift also.

Beobachter: Gibt es auch weiche Faktoren?
Urbaniok: Ganz wichtig ist eine Sensibilisierung gegenüber Opfern. Sie sind nicht nur Beweismittel, sondern eine eigenständige, gleichberechtigte Grösse im Strafverfahren und müssen auch so behandelt werden. Opfer verdienen Unterstützung und unsere Solidarität. Hier gibt es in unserem Rechtssystem, aber auch in der Gesellschaft Nachholbedarf.

Frank Urbaniok, 50, ist Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes beim Justizvollzug des Kantons Zürich, Gerichtspsychiater und Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Zürich. Der gebürtige Kölner, der seit 1995 in der Schweiz lebt, gilt international als einer der führenden Experten für Gewalt- und Sexualstraftäter. In seinem Behandlungsansatz beurteilt er die Gefährlichkeit eines Täters, also ob er therapierbar ist oder erneut eine Straftat begehen könnte. Urbaniok ist geschieden und lebt mit seiner neuen Partnerin zusammen.

Quelle: Sabina Bobst/Pixsil