Ein Schlag ins Gesicht: So fühlt es sich für viele an, wenn sie einen Strafbefehl erhalten. Peter Ambühl (Name geändert) aus St. Gallen hat eine solche Klatsche kassiert. Im Strafbefehl warf man ihm vor, er habe sich von einem Unbekannten, der keinen Führerausweis hatte, im eigenen Auto nach Hause chauffieren lassen. Was nicht berücksichtigt wurde: Ambühl hatte einen Schwächeanfall erlitten und sich nur deshalb vom Unbekannten nach Hause fahren lassen. Und der hatte ihn auch noch bestohlen.

«Ich hatte überhaupt keine Möglichkeit, die Staatsanwaltschaft davon zu überzeugen, dass ich damals keine Zweifel an der Fahrberechtigung des vermeintlichen Helfers hatte», ärgert sich Peter Ambühl. Trotzdem hat er den Strafbefehl akzeptiert – und damit eine Busse von 150 Franken plus 390 Franken Gebühren. «Die Staatsanwaltschaft hat mir zu verstehen gegeben, dass es noch viel teurer käme, wenn das Strafgericht meine Einsprache nicht guthiesse.»

Vereinfachtes Strafverfahren ohne Richter

Mit solchen oder ähnlichen Fällen wenden sich viele Ratsuchende ans Beobachter-Beratungszentrum. Statt beim Gericht Anklage zu erheben, spricht die Staatsanwaltschaft gleich selbst die Strafe aus. Mittlerweile werden über 90 Prozent der Straffälle in der Schweiz per Strafbefehl abgewickelt. Dieses abgekürzte Prozedere gilt seit 2011 mit der Vereinheitlichung der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO). Es ist zulässig bei allen Delikten, die wie folgt geahndet werden: mit Busse, Freiheitsstrafe von maximal sechs Monaten, Geldstrafe von 180 Tagessätzen oder gemeinnütziger Arbeit von 720 Stunden. Die beschuldigte Person muss zudem die Vorwürfe anerkennen, oder sie müssen anderweitig genügend geklärt sein.

Keine Anhörung vor Gericht: Betroffene fühlen sich übergangen

Doch genau bei der Frage, wann ein Vorwurf als genügend geklärt gilt, scheiden sich die Geister. Die Strafbehörden interpretieren einen Strafbefehl als «Offerte» zur effizienten und aussergerichtlichen Erledigung einer Strafsache. Rechtswissenschaftler dagegen kritisieren die fehlende Rechtsstaatlichkeit solcher Schnellverfahren (siehe Inverview «Strafbefehl: Wie fair ist der ‹kurze Prozess›»).

Kritisiert wird vor allem, dass Beschuldigte vor dem Erlass eines Strafbefehls nicht angehört werden müssen [Anmerkung der Redaktion: Seit 2024 muss bei einer erwägten Freiheitsstrafe die Person zwingend einvernommen werden, bevor der Strafbefehl ausgestellt wird]. Wie andere Anwälte moniert auch der Zürcher Strafrechtsexperte Silvan Fahrni: «Der ‹kurze Prozess› wird als unfair empfunden, wenn Betroffene ihn nicht kennen und sprachlich oder intellektuell das Juristendeutsch und die Konsequenzen des Strafbefehls nicht verstehen. Wenn es keine Anhörung gab, fühlen sich Betroffene übergangen, weil sie ihren Standpunkt nie darlegen konnten. Bisweilen geht aus einem Strafbefehl auch nur sehr rudimentär hervor, was einem überhaupt vorgeworfen wird.»

Die meisten Verurteilungen per Strafbefehl stützen sich ausschliesslich auf die polizeilichen Ermittlungen, insbesondere den Polizeirapport, ohne dass der Staatsanwalt den Beschuldigten je persönlich zu den Vorwürfen angehört hat. Im Kanton St. Gallen etwa, wo Peter Ambühl verurteilt wurde, gibt es bei über 90 Prozent der Strafbefehlsverfahren keine Anhörung.

Auf eine Überprüfung des Strafbefehls wird oft verzichtet

Am häufigsten wird das Strafbefehlsverfahren bei Verkehrsdelikten angewandt, etwa Tempoüberschreitung, Vortrittsmissachtung oder Nichtbeherrschen des Fahrzeugs. Hier zeigt sich ein weiteres gewichtiges Problem: Viele Verurteilte verzichten auf eine Überprüfung des Strafbefehls durch das Strafgericht, obwohl sie nicht einverstanden sind – weil hohe Kosten drohen (siehe «Strafbefehl erhalten: Was tun?»).

Unter Umständen bereuen sie das aber bald, wenn sie Post vom Strassenverkehrsamt erhalten und dieses, gestützt auf den rechtskräftigen Strafbefehl, einen Ausweisentzug androht.

Keine Einsprache gegen Strafbefehl, kein Führerschein mehr

So war es bei Stefan Siegenthaler (Name geändert) aus dem St. Galler Rheintal. Er hatte gehupt, weil er einen Velofahrer überholen wollte, der mitten auf der Strasse fuhr. Der Biker schlug gegen das Auto, Siegenthaler wollte ihn zur Rede stellen. Erfolglos – und der Velofahrer ging schnurstracks zur Polizei. Die Staatsanwaltschaft stützte sich auf die Version des Bikers und verurteilte Siegenthaler wegen grober Verkehrsregelverletzung durch Abdrängen eines Velofahrers, ohne ihn vorher anzuhören.

Nach Ablauf der Einsprachefrist entzog ihm das Strassenverkehrsamt für drei Monate den Ausweis. «Wenn ich gewusst hätte, dass der Strafbefehl derartige Konsequenzen hat, hätte ich mich gewehrt», sagt Siegenthaler. «Denn der Velofahrer hat meine Vorwürfe gegen ihn, die ich bei der Polizei vorbrachte, ganz einfach bestritten – und ist damit durchgekommen.»

Strafbefehl erhalten: Was tun?

  • Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie den «Vorschlag» der Staatsanwaltschaft akzeptieren, auf einen Teil Ihrer Verfahrensrechte – speziell auf die Anhörung – verzichten und im Gegenzug weniger zahlen? Oder bestehen Sie darauf, Ihre Argumente einem Gericht oder wenigstens dem Staatsanwalt vorzutragen? Dann müssen Sie innert zehn Tagen Einsprache erheben.
     
  • Die Einsprache kann aber ihren Preis haben: Falls der Staatsanwalt und später das Gericht trotz Ihren Argumenten an der Verurteilung festhalten, müssen Sie mit Verfahrenskosten von 1000 Franken und mehr rechnen. Einsprache gegen einen Strafbefehl ist also nur sinnvoll, wenn Sie Beweise haben, die Sie von den Vorwürfen befreien. Bei Verkehrsdelikten etwa ein Alibi, dass Sie zur fraglichen Zeit nicht am besagten Ort gewesen sein konnten.
     
  • Wenn Sie unsicher sind, ob sich eine Einsprache lohnt, nehmen Sie innerhalb der Frist bei der Staatsanwaltschaft Einsicht in die Akten. Falls es dafür zu knapp wird: Erheben Sie vorsorglich Einsprache. Sie können sie bis zur Gerichtsverhandlung wieder zurückziehen – gegen eine kleine Abschreibegebühr.