Vor bald drei Jahren wehrte sich der Regierungsrat des Kantons Thurgau noch vehement, Betroffene von fragwürdigen Medikamentenversuchen zu entschädigen, die in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen während vier Jahrzehnten durchgeführt wurden.
Psychiatrieprofessor Roland Kuhn hatte zwischen 1940 und 1980 an rund 3000 Patientinnen und Patienten nicht zugelassene Substanzen getestet. Das Ausmass der Tests wurde 2019 durch eine interdisziplinäre Forschergruppe aufgearbeitet
. Schon 2014 berichtete der Beobachter über Kuhns exzessiven Forschungsdrang (
«Die Menschenversuche von Münsterlingen»).
Bisher argumentierte der Kanton Thurgau damit, eine Entschädigung müsse auf nationaler Ebene geregelt werden. Jetzt folgt die Kehrtwende: Der Regierungsrat schreibt in einer Antwort auf eine überparteiliche Forderung aus dem Parlament: «Eine weitere Verzögerung einer Entschädigung ist zunehmend unhaltbar.»
SP-Nationalrätin Gabriela Suter forderte auf nationaler Ebene vor zwei Jahren eine Entschädigung für Opfer von Medikamentenversuchen. Doch das Thema wurde bisher noch nicht einmal im Parlament beraten. Ob es jemals eine schweizweite Regelung geben wird, ist ungewiss. Die Thurgauer Regierung will nun «zeitnah» einen Gesetzesentwurf ausarbeiten, so dass eine Regelung per Anfang 2025 in Kraft treten könnte. Anfang März muss das Kantonsparlament dem Vorschlag noch zustimmen.
Erleichterung auch für Patientinnen und Patienten aus anderen Kliniken
Entschädigt werden sollen nicht nur frühere Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Klinik Münsterlingen, sondern auch jene, an denen in der Klinik Littenheid und der damaligen psychiatrischen Privatklinik Zihlschlacht Medikamentenversuche vorgenommen wurden. Die Krankengeschichten mit den Psychopharmaka-Versuchen sind im Kanton Thurgau breit dokumentiert, im Staatsarchiv lagern umfangreiche Patientenakten aus der Ära Kuhn.
Der Regierungsrat schätzt die Zahl der möglichen Gesuche auf maximal 500. Den Kanton würde das rund 12,5 Millionen Franken kosten, wenn pro Gesuch 25’000 Franken ausbezahlt würden, so wie beim nationalen Solidaritätsbeitrag für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen .
Walter Emmisberger, an dem als Kind und Jugendlicher jahrelang nicht zugelassene Substanzen ausprobiert wurden und der sich seit bald zehn Jahren für eine Aufarbeitung einsetzt, zeigt sich erleichtert: «Ich hoffe, dass der Grosse Rat uns Opfer unterstützt und wir schnell eine finanzielle Entschädigung erhalten.»