Frau Kaufmann, wie gehen Sie selbst mit Schmerzen um?
Julia Kaufmann: Ich frage mich zum Beispiel: Was kann ich tun, um den Schmerz zu lindern? Zeigt er mir, wie ich mir besser Sorge tragen kann? Wo ich über meine Grenzen gehe? Ich arbeite auch gern mit Visualisierungen, etwa, indem ich mir einen Sonnenstrahl vorstelle, der den Körper wärmt.


Und das nützt?
Bei mir wirkt es, ja. Beim Zahnarzt hilft es mir zum Beispiel auch, wenn ich den Schmerz umdeute und mir sage, dass die Behandlung meinem Körper zugutekommt, statt mich gegen sie zu wehren.
 

Klingt schwierig. Sind manche Menschen wehleidiger als andere?
Mit diesem Begriff habe ich Mühe, weil er abwertend ist. Man bezeichnet damit jemanden, der schon beim geringsten Anlass jammert – aber Aussenstehende können ja nicht wissen, wie sich dieser Schmerz anfühlt, weil Schmerz subjektiv ist. Deshalb ist es mir so wichtig, dass das individuelle Schmerzerleben jeder Person ernst genommen und respektiert wird.

Zur Person

Julia Kaufmann ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und leitet am Zentrum für Schmerzmedizin des Schweizer Paraplegiker-Zentrums das Team der Schmerzpsychologinnen.

Julia Kaufmann ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und leitet am Zentrum für Schmerzmedizin des Schweizer Paraplegiker-Zentrums das Team der Schmerzpsychologinnen.

Quelle: Walter Eggenberger SPS

Warum leiden bei der gleichen Zahnbehandlung nicht alle gleich?
Wenn die Zahnärztin bohrt, dann wird über die Nozizeptoren ein äusserer Reiz weitergeleitet. Aber der Schmerz ist mehr als die Aktivierung der Nervenfaser, er ist das, was der Mensch empfindet. Der äussere Reiz wird im Nervensystem bei jedem Menschen ein bisschen anders weitergeleitet und im Hirn dann auch anders verarbeitet. Dort beeinflussen biologische, psychologische und soziale Faktoren die Schmerzverarbeitung.


Welche biologischen Einflüsse verstärken den Schmerz?
Zum Beispiel eine lange Schmerzdauer, die das Nervensystem sensibilisiert. Eine körperliche Erkrankung oder eine äussere Schädigung wie ein Sonnenbrand. Auch das gesamte Hirn kann in einem sensibilisierten Zustand sein, im Rückenmark können Reize unterschiedlich verarbeitet werden.


Und wie spielen die sozialen und psychologischen Faktoren mit hinein?
Wenn jemand in seiner Kindheit gelernt hat, dass er sich nicht verletzlich zeigen darf, dann kann das dazu führen, dass er bei Schmerzen auf die Zähne beisst, was zu Selbstüberforderung, innerer Anspannung und Erschöpfung führen kann. Auch ein Konflikt im Arbeitsleben oder in der Beziehung kann ein Stressfaktor sein, der den Schmerz verstärkt. Das wären soziale Einflüsse. Auf der psychologischen Ebene geht es um Fragen wie: Erlebe ich den Schmerz als bedrohlich? Habe ich Angst und ziehe ich mich zurück? Erkenne und respektiere ich meine Grenzen?
 

Verstärken Depressionen Schmerzen?
Ängste und depressive Symptome können sowohl eine Folge von Schmerzen sein als auch zu ihrer Chronifizierung beitragen. Oft entsteht ein Teufelskreis aus Schmerzen, negativen Emotionen und Reaktionen darauf, wie etwa körperliche Schonung oder ein Rückzug aus dem Alltagsleben.

Auf der psychologischen Ebene geht es um Fragen wie: Erlebe ich den Schmerz als bedrohlich? Habe ich Angst und ziehe ich mich zurück? Erkenne und respektiere ich ­meine Grenzen?

Julia Kaufmann, Psychologin

Stimmt es, dass unterdrückte Gefühle körperlich schmerzen können?
Die Mechanismen beim Zusammenspiel zwischen Schmerz und Emotionen sind sehr komplex und erst teilweise bekannt. Die bisherige Forschung deutet aber auf eine grosse gegenseitige Beeinflussung hin. So kann zum Beispiel Wut, die man nicht ausdrückt, zu Anspannung führen, und Anspannung verstärkt in der Regel den Schmerz.


Warum haben Menschen mit Migrationshintergrund häufiger chronische Schmerzen?
Einerseits, weil Migration an sich ein Stressfaktor ist, andererseits aber auch, weil es im Gastland mehr Stressfaktoren gibt: Wenn jemand zum Beispiel einen körperlich strengen Job ausübt, macht er sich verständlicherweise grosse Sorgen, wenn er krank wird, weil er weiss, dass er auf seinen Körper angewiesen ist. Das kann den Schmerz verstärken und zu Schlafproblemen führen, die die Erholung vermindern. Überfordert man sich dann auch noch selbst, vermehrt das wiederum die Schmerzen, was zu noch grösseren Ängsten führt. Ein Teufelskreis.


Wie helfen Sie Menschen mit chronischen Schmerzen?
Das ist sehr individuell. Viele sind am Anfang in einem Schwarz-Weiss-Denken gefangen. An guten Tagen gehen sie in die Selbstüberforderung – und haben mehr Schmerzen. Dann kippen sie ins andere Extrem und trauen sich nicht mehr, aktiv zu sein. Wir unterstützen sie darin, in kleinen Schritten auszuprobieren, was geht. Man muss nicht gleich eine Wanderung machen, sondern kann spazieren gehen. Es geht darum, die eigenen Grenzen zu respektieren, eine dosierte Aktivität zu finden und langsam zu steigern.


Muss man Schmerz annehmen?
In der Regel hilft es, den aktuellen Schmerz anzunehmen, selbstfürsorglich damit umzugehen und herauszufinden, was einem guttut. Manchmal gelingt erst dann eine Schmerzlinderung.


Warum ist Selbstfürsorge wichtig?
Die Lebensgeschichten der Schmerzpatienten berühren mich oft, denn viele sind sich gewohnt, eher für andere zu schauen und viel zu leisten. Sie müssen erst einmal lernen, darauf zu achten, was ihnen im Moment guttut: eine Pause machen, bevor man am Anschlag ist. Im Beruf, in der Familie und im Freundeskreis kommunizieren, was gerade möglich ist. Für sich selbst einstehen. Selbstfürsorge reicht von der Mikroebene – sich am Computer zwischendurch strecken – bis zu grossräumigen Überlegungen wie der Frage, wie viele Stellenprozente man arbeiten möchte. Häufig ist der Schmerz auch eine Chance, zu lernen, sich selbst Wertschätzung entgegenzubringen.
 

Selbstfürsorge im Job – das dürfte schwierig sein…
Ja, viele beissen sich beim Arbeiten durch und merken erst am Abend, dass es zu viel war. Unsere Leistungsgesellschaft ist da nicht gerade förderlich. Man wird selten ermutigt, sich einen Wecker zu stellen und regelmässig Pausen zu machen.

Buchtipp
Dem Schmerz die Stirn bieten
Dem Schmerz die Stirn bieten

Worunter leiden Schmerzpatientinnen und -patienten am meisten?
Unter der Hilflosigkeit. Und darunter, dass man ihnen den Schmerz nicht ansieht oder es keinen eindeutigen körperlichen Befund gibt und sie sich deshalb zu wenig ernst genommen fühlen. Wir sollten anerkennen, dass sich Schmerz auf den Körper, die Psyche, das Umfeld, den Beruf auswirkt, und versuchen, den Menschen ganzheitlich zu unterstützen. Es ist nicht hilfreich, nur nach einem körperlichen Auslöser zu suchen. Und es würde viel bringen, schon früher interdisziplinär zu behandeln. Hausärztinnen schicken ihre Schmerzpatienten leider oft erst spät zur Schmerzpsychologin.


Was hilft gegen die Hilflosigkeit?
Selbstwirksamkeit ist enorm wichtig. Wir unterstützen Menschen mit Schmerzen, sich selbst in einer aktiveren Rolle zu sehen. Sie sollen merken: «Ich habe einen Einfluss auf meine Situation.» Denn oft gibt es bei chronischen Schmerzen ja nicht nur die eine medizinische Lösung, die den Schmerz wegzaubert. Man muss vieles ausprobieren: Wärme anwenden, tief durchatmen, Ablenkung, Achtsamkeitsübungen, Bewegung. Wenn Patientinnen und Patienten das Wissen über ihren eigenen Körper, ihre eigenen Erfahrungen nutzen können, gelingen Schritt für Schritt Verbesserungen.


Leiden Gläubige weniger?
Wenn jemand glaubt, die Schmerzen seien eine Strafe, dann kann das eine zusätzliche Belastung sein. Ist der Glaube aber eher eine Art Urvertrauen, das hilft, eine Lösung zu finden, dann stärkt es den Menschen eher. Der Glaube kann ebenso eine Ressource sein wie eine optimistische Einstellung, Musik, Grosskinder hüten oder Meditation.


Was können Angehörige tun?
Oft sind auch sie hilflos und wünschen sich, dass der Schmerzpatient ihnen sagt, welche Unterstützung er sich wünscht. Wichtig ist, dass das Umfeld keinen Druck ausübt, aber auch nicht übermässig beschützend ist. Und dass Angehörige sich selbst nicht vergessen. Wir fördern den Austausch zwischen Patienten und Angehörigen. Diese Gespräche sind oft sehr berührend. Häufig kommt seit langer Zeit ein Gespräch zustande, in dem Wertschätzung ausgedrückt wird oder Bewunderung für das, was der andere durchmacht.