Beobachter: Forscher wollen schon bei der über 5000 Jahre alten Gletschermumie Ötzi Arteriosklerose und vermutlich Bluthochdruck diagnostiziert haben. Hat also hoher Blutdruck nichts mit der modernen Überflussgesellschaft zu tun?
Thomas Lüscher: Doch. Volksstämme, die noch heute so leben wie unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren, belegen, dass die Lebensweise für die Entstehung von Bluthochdruck entscheidend ist. So liegt etwa der Blutdruck der Tsimané-Indios, die im bolivianischen Amazonaswald leben, im Durchschnitt lebenslang bei 116/73 mm Hg. Sie bewegen sich viel und jagen im Durchschnitt acht Stunden am Tag in einem Umkreis von 18 Kilometern. Wir Westler hingegen benutzen den Lift, um das Auto zu erreichen, aus dem heraus wir das Garagentor automatisch öffnen. Dann fahren wir zur Arbeit, wo wir einen weiteren Lift nehmen und dann den ganzen Tag vor dem Computer arbeiten.


Gemäss einer internationalen Studie von 2016 hat sich der Anteil der Menschen mit Bluthochdruck in den letzten 40 Jahren fast verdoppelt. Alles die Folge mangelnder Bewegung?
Dass in der westlichen Zivilisation mehr Menschen von hohem Blutdruck betroffen sind, hat verschiedene Ursachen: sitzender Lebensstil, einhergehend mit Übergewicht, zunehmende Automatisierung des Lebens, Lärm, Licht und Hektik. Ein weiterer Faktor ist die Ernährung und dass hochkalorische, zu salzhaltige Nahrungsmittel und Getränke uneingeschränkt verfügbar sind. Auch der Alkoholkonsum ist ein Problem. Zur Entwicklung der Zivilisationskrankheit Bluthochdruck beigetragen hat überdies die höhere Lebenserwartung. Mit dem Alter werden die Gefässe steifer, in der Folge steigt der obere Blutdruck bei den allermeisten.

Zur Person

Professor Thomas F. Lüscher (www.tomluescher.ch) führte 20 Jahre lang die Klinik für Kardiologie am Universitätsspital Zürich. 2017 folgte er einem Ruf nach London, wo er heute als Director of Research, Education and Development am Royal Brompton & Harefield Hospital Trust und am Imperial College tätig ist. Teilzeitlich leitet er auch das Zentrum für Molekulare Kardiologie der Universität Zürich.

Kritiker der Schulmedizin sagen: Die Weltgesundheitsorganisation habe die Blutdruck-Grenzwerte laufend herabgesetzt. Das erhöhe per definitionem die Fallzahlen.
Das trifft zu, aber die Definition wurde zu Recht korrigiert. Als ich Assistenzarzt war, galt 100 plus Alter, dann 160/95, dann 140/90, nun 120/70 in den USA, und in Europa empfiehlt die Europäische Gesellschaft für Kardiologie 130/70 mm Hg. Die Epidemiologie des Blutdrucks zeigt klar, dass Herzinfarkt, Hirnschlag und frühzeitiger Tod bereits im sogenannten Normalbereich mit steigendem Blutdruck zunehmen. Auch hier gilt: Der tiefste Blutdruck, bei dem einem nicht schwindlig wird, ist der beste.
 

Die vorher erwähnte Studie von 2016 kommt zum überraschenden Schluss, dass heute nicht die wohlhabenden Industrieländer am stärksten von der Bluthochdruck-Problematik betroffen sind, sondern die Entwicklungs- und Schwellenländer.
In der Tat. In Kenia beispielsweise ist die Hypertonie, also der Bluthochdruck, eine Epidemie. Die Afrikaner und Afrikanerinnen werden schnell hyperton, sobald sie salzhaltiger essen, sich weniger bewegen und folglich zunehmen.


Die meisten von Bluthochdruck Betroffenen leben in Asien. Woran liegt das?
In Indien und im Mittleren Osten sind Übergewicht und eine sitzende Lebensweise das Hauptproblem. In Japan und China ist hoher Blutdruck schon länger stark ausgeprägt und führt in dieser Ethnie vor allem zu Hirnschlägen, weniger zu Herzinfarkten. Hier spielt wohl der hohe Salzgehalt der stark konsumierten Sojasauce eine Rolle.


Sie sind sowohl in der Schweiz wie auch in England tätig. Welche Unterschiede, die Gesundheit betreffend, stellen Sie zwischen den beiden Ländern fest?
Die Engländer sind deutlich übergewichtiger, nur die Oberschicht macht regelmässig Sport – und der tägliche Pub-Besuch ist mit einem erheblichen Alkoholkonsum verbunden. Ausserdem spielt die multiethnisch zusammengesetzte Bevölkerung eine Rolle. Es hat viele Indischstämmige, die zu Übergewicht, Hochdruck und Diabetes neigen. Schliesslich ist auch das nationale Gesundheitssystem, der NHS, nicht das effizienteste. Die Schweizer legen zwar ebenfalls jedes Jahr ein bisschen an Körpergewicht zu, aber deutlich weniger als Menschen in anderen Ländern. Entsprechend ist die Adipositas bei uns weniger ausgeprägt.


Jeder dritte Betroffene in Europa weiss nicht, dass sein Blutdruck zu hoch ist. Warum nicht?
Bluthochdruck tut nicht weh. Bis erste Symptome auftreten, können Jahre oder Jahrzehnte vergehen.


Gibt es kein einziges Symptom, das uns warnen kann?
Nein. Bluthochdruck ist ein stiller Killer.


Also bleibt nur die regelmässige Kontrolle beim Arzt. Aber gerade dort spielt oft der «Weisskitteleffekt» eine Rolle: Der Besuch beim Arzt lässt bei vielen die Blutdruckwerte steigen, weshalb sie oft nicht repräsentativ sind oder verharmlost werden.
Gewiss, deshalb muss man dreimal hintereinander messen; die erste Messung ist immer zu hoch. Es gibt aber auch die Möglichkeit einer 24-Stunden-Messung. Auch einige Apotheken bieten Blutdruckmessungen an – dort entfällt der «Weisskitteleffekt» meist. Schliesslich bleibt die Messung zu Hause: Jeder Haushalt sollte nicht nur ein Fieberthermometer, sondern auch ein Blutdruckmessgerät besitzen.


Welche Folgen hat anhaltender Bluthochdruck?
Hirnschlag, Demenz, Nierenversagen, Herzinfarkt und verfrühter Tod.

Buchtipp
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Trifft es zu, dass schon ein leicht erhöhter Blutdruck auch die Leistungsfähigkeit des Gehirns negativ beeinflusst?
Der Bluthochdruck betrifft auch die Hirngefässe und kann zu Mikroinfarkten führen. Diese Wirkung nimmt mit der Höhe des Drucks und der Dauer der Hypertonie zu.


Viele Betroffene werden medikamentös behandelt. 2012 hat jedoch eine Metastudie der Cochrane Foundation gezeigt, dass Blutdrucksenker bei Menschen mit einem oberen Blutdruck zwischen 140 und 160 mm Hg keine Gesundheitsvorteile bringen. Stimmt das?
Das lässt sich so nicht abschliessend sagen, weil die Beobachtungsdauer, die dieser Studie zugrunde lag, zu kurz angelegt war. Auch die Zahl der erfassten Patientinnen und Patienten war zu gering. Entscheidender ist das Lifetime Risk, das Lebenszeitrisiko. Wenn man mit 45 einen hohen Blutdruck hat, ist es nicht entscheidend, was bis 50 passiert, vielmehr, welche Komplikationen man mit 60 oder 70 erleidet. Das Risiko für Hirnschlag, Demenz, Nierenversagen, Herzinfarkt und vorzeitigen Tod hängt einerseits von der Höhe des Blutdrucks ab, anderseits davon, wie lange der Blutdruck bereits erhöht ist.


Ab welchen Blutdruckwerten empfehlen Sie die Einnahme von Medikamenten?
Ein Blutdruck über 140 mm Hg braucht in aller Regel eine lebenslange medikamentöse Therapie bei älteren wie bei jüngeren Patienten. Bei jüngeren Personen unter 60 Jahren würde ich bei einem Blutdruck über 130 mm Hg zunächst eine 24-Stunden-Messung vornehmen und bei Bestätigung der Werte eine Behandlung vorsehen. Wenn der Patient übergewichtig ist, kann man die medikamentöse Therapie nach einigen Monaten überprüfen. Gelegentlich lässt sich mit Gewichtsreduktion, mehr körperlicher Bewegung und stark reduziertem Alkohol- und Salzkonsum der Blutdruck wieder normalisieren – zwischen 120 und 130 mm Hg.

Tipps

Das ist gut für Herz und Gefässe

  • Ernährung: Mediterran essen, mit viel Früchten und Gemüse und mit Olivenöl. Wenig oder kein Alkohol.
  • Gewicht: Body-Mass-Index (BMI) möglichst unter 25, langsam essen, vor allem zu Essensbeginn Wasser trinken, Kalorien einschränken, wenig Süssigkeiten.
  • Bewegung: Sich drei- bis fünfmal pro Woche bewegen.
  • Stress reduzieren, zu viel Lärm meiden.
  • Nikotin ist ungesund, führt aber nicht zu hohem Blutdruck, vielmehr zu Herzinfarkt und Lungenkrebs.

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