«Das vorletzte Stück», sagt Res Spycher und hebt den Tonarm des Plattenspielers an. Normalerweise träfe er schlafwandlerisch sicher die Rille der Platte. Doch jetzt nicht. Bei weitem nicht. Seine Arme wedeln, der Oberkörper fährt herum, der Kopf wackelt. Spycher hat Parkinson. Oder besser: Parkinson hat ihn.

Morbus Parkinson ist weit mehr als nur Zittern. Die Krankheit kann alles. Wenn sie will, lässt sie einen fast völlig die Herrschaft über die Bewegungen verlieren. Dann kann ein Mensch vor einem sitzen, so wild mit den Armen rudern und auf dem Stuhl herumrutschen, dass man Angst hat, er könnte herunterfallen. Oder Parkinson jagt ihm eine Muskelblockade in den Körper, die ihn regelrecht an Ort einfriert. Langsam nur schleicht sich die Krankheit ein. Über Jahre ergreift sie Besitz und stört die Bewegungen, das Muskel- und das vegetative Nervensystem und den Schlaf-wach-Rhythmus. Depressionen sind häufig, Aussprache und Mimik verändern sich.

«Verdammte Scheisskrankheit»

Parkinson ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. In der Schweiz leben 15'000 Betroffene. Die Krankheit lässt sich mit Medikamenten behandeln. Doch ihr Einsatz ist ein ärztlicher Seiltanz, und die Wirkung kann mit der Zeit nachlassen. 

«Eine verdammte Scheisskrankheit», sagt der Berner Kriminalkommissar Nidermeyer. Er hat Parkinson. Nidermeyer sagt alles, was Res Spycher über Parkinson denkt. Er ist die Figur in Spychers autofiktivem Roman mit dem englischen Titel «The Inverse Smile», im Sommer im Zürcher Wolfbach-Verlag erschienen. Nidermeyer muss einen Doppelmord aufklären, ausgerechnet in der Klinik für neurologische Rehabilitation, in der er einst selbst Patient war. Genauso wie der «richtige» Patient, Res Spycher, der vor drei Jahren zur Einstellung seiner Medikation in die Klinik im Seeland kam.

Das Problem war nicht das Saxofon

Res Spycher ist 59. Als er vor 14 Jahren Bekanntschaft mit Parkinson schliesst, spielt er noch Saxofon in der Berner Band Eleven Up. Beruflich ist der Familienvater Elektroplaner, zuletzt als Teilhaber einer Ingenieurfirma. Doch seit seiner Jugend spielt er in verschiedenen Formationen mit Berner Mundartrockern, taucht auch einmal auf einer Platte von Züri West auf. 

Als er eines Tages eine Passage nicht mehr richtig spielen kann, hält er das Instrument für defekt. Es sei völlig in Ordnung, heisst es beim Mechaniker. Der Arzt gibt ihm ein Anti-Parkinson-Medikament. Er solle es vor dem nächsten Konzert nehmen. Da werde er die Antwort erhalten. «Wenn Sie richtig spielen, haben Sie Parkinson.»

Der Kommissar alias Spycher nimmt also die Pillen und hat schon mal weniger Lampenfieber vor dem Konzert. Dann spielt er die heiklen Passagen dermassen sicher, dass seine Mitmusiker ihm spontan zuzwinkern. Ihm jedoch ist das Lachen vergangen. Unter Tränen spielt er das Konzert zu Ende.

Es geht noch ein paar Jahre, dann muss Spycher die Band aufgeben. Im Beruf vermeidet er die Front, keine Kundenbesuche und Produktpräsentationen mehr. «Wenn du herumzappelst, kauft dir niemand etwas ab.» Parkinson nimmt zu, das normale Leben ab. Nach und nach verschwinden Teile seines aktiven Lebens. Jahrelang hat er alte Motorräder restauriert, darunter eine 500er-Motosacoche, Baujahr 1932. In seiner Garage zeigt er eine wunderschöne 650er-Triumph. Das Nummernschild fehlt. «Sie haben mir den Fahrausweis abgenommen», sagt er, und seine Augen sind feucht.

«Es war ein Riesenschock»

Natürlich leidet nicht nur er unter der Erkrankung. «Zuerst war es ein Riesenschock für uns alle», sagt seine Frau Beatrice. Inzwischen hat sich die Lehrerin an vieles gewöhnt. Doch sie leidet oft mit. An die Zukunft versucht sie nicht zu denken. «Vieles ist schon jetzt schwierig genug.» Etwa wenn gemeinsame Unternehmungen ausfallen müssen, weil er plötzlich blockiert ist. 

Sie freut sich über seine Stärke und die Disziplin, die er fürs Schreiben oder für die bildende Kunst aufbringt. Dass er seinen Humor behält. Oder wie er mit den beiden Söhnen umgeht. Dass er weiterhin mit dem Velo in die Stadt fährt, Freunde besucht. «Wir halten die schönen Momente fest.» Letzten Herbst waren sie zusammen in der Toskana, am Meer zelten. «Es war wunderbar.»

Spycher hat den Beruf aufgegeben. Geht kaum mehr Fussball spielen, selten auf Skitouren. Sein grosser Freundeskreis ist kleiner geworden. «Viele rufen nicht mehr an.» Doch trotz aller Trauer und Verluste macht er das Beste aus seiner Situation. Er habe auch einiges gewonnen durch seine Krankheit, etwa Zeit für seine Hobbys, das Schreiben, die Musik. Er macht auch handwerkliche Kunst, manchmal verschwindet er nächtelang im Keller, schweisst und hämmert. Oder er stöbert in Brockenhäusern nach alten Schallplatten. Seine Singlesammlung umfasst mehr als 10'000 Stück. Manche 45er-Pop-Hits hat er doppelt, tauscht sie gegen Platten, die er dringend braucht. «Bicycle Race» von Queen etwa sucht er schon lange. Im Wohnzimmer steht eine alte Jukebox. Auf Wunsch spielt er jetzt «Son of a Preacher Man», und seine blauen Augen leuchten.

Der Isolation entfliehen

Zum Schreiben hat Spycher eigentlich Parkinson verholfen. Nachts, wenn er nicht schlafen kann, sitzt er oft da und schreibt seine Ideen auf. So entstehen die Kriminalgeschichten. Das Vorbild: Friedrich Glauser und sein Wachtmeister Studer, Berner Lokalkolorit und autobiografischer Inhalt. Spychers Kommissar Nidermeyer löst Mordfälle, trotz Parkinson, aber er leidet darunter, dass er nicht mehr der Alte ist und man ihm jetzt einen Assistenten zur Seite stellt. «Der Nidermeyer ist ein Aussenseiter, wie Studer.»

Spycher hat einen Verlag für seine Nidermeyer-Krimis, und jetzt tippt er auch tagsüber, wenn Parkinson es ihm erlaubt. Lange litt er unter der zunehmenden sozialen Isolation, jetzt freut er sich über die Aufmerksamkeit, die er als Autor erhält. Und hat schon den nächsten Fall für Nidermeyer geschrieben. «Ja, der Nidermeyer», sagt er schmunzelnd. «Wird ja nicht einfacher für ihn, als Kommissar mit Parkinson, der arme Siech.»

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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