Grossbritannien, Deutschland, Österreich – in vielen Ländern bleiben die Schulen zu. Nicht in der Schweiz. Seit letztem Sommer heisst es unisono: «Wir möchten Schulschliessungen möglichst vermeiden.» Ist das vernünftig, oder geht die Politik ein zu grosses Risiko ein?

Nach der Analyse von 1,5 Milliarden Handy-Bewegungsdaten legt eine neue, erst vorveröffentlichte ETH-Studie nahe, dass Schulschliessungen das Infektionsgeschehen in der ersten Welle stark eindämmten. Eine Gruppe um den Wirtschaftsinformatiker Stefan Feuerriegel zeigt, dass die Mobilität in der Schweiz um 21,6 Prozent abnahm. Nur das Versammlungsverbot für mehr als fünf Personen (minus 24,9 Prozent) und die Schliessung von Restaurants, Bars und Geschäften (minus 22,3 Prozent) hatten noch grösseren Einfluss.

«Pro Prozentpunkt geringerer Mobilität sank auch die Zahl der Covid-19-Fälle mit einer Verzögerung von 9 bis 13 Tagen um etwa 1 Prozent», sagt Feuerriegel. Das bedeutet, dass allein dank der Schliessung der Schulen die Fallzahlen um ein Fünftel fielen. «Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Eltern blieben öfter zu Hause», sagt Feuerriegel. «Das verringerte letztlich die Zahl der Corona-Ansteckungen.»

Stärkere Immunantwort bei Kindern

«Kinder sind keine Treiber der Pandemie», ist dagegen von offizieller Seite zu hören, auch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG). Was dieser Satz bedeutet, zeigt ein Vergleich mit der Grippe. Bei der Influenza sind Kinder öfter infiziert und scheiden grössere Virenmengen aus als Erwachsene. Sie sorgen damit für eine starke Verbreitung des Virus. Beim neuartigen Coronavirus ist das wohl anders.

«Bei Kindern ist die angeborene Immunantwort stärker als bei Erwachsenen», sagt Christian Münz, Zürcher Professor für virale Immunbiologie. «Ihr Immunsystem wird durch ständige Auseinandersetzung mit anderen Viren in Alarmbereitschaft gehalten. Es ist möglich, dass dies dazu beiträgt, dass Kinder kaum schwer an Covid-19 erkranken.»

Das legt auch eine Studie des College of Medicine in New York nahe. Danach zeigten Kinder höhere Level der Botenstoffe im Blut, die für eine angeborene Immunantwort charakteristisch sind.

Cluster an Schulen

Dennoch kommt es immer wieder zu Ausbrüchen an Schulen. In der ersten Welle machte ein französisches Gymnasium Schlagzeilen, in dem sich 40 Prozent der Schüler und Lehrpersonen angesteckt hatten. In Hamburg war ein infizierter Schüler Ausgang für eine Kette von 29 Infektionen innerhalb einer Schule. Das konnten Forschende anhand von Genom-Untersuchungen des Erregers zeigen.

Auch in der Schweiz gab es solche Cluster. Susi Kriemler, Professorin am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Uni Zürich, und Kollegen wiesen in ihrer «Ciao Corona»-Studie eine Häufung von Fällen in sieben Klassen nach. Sie hatten 2500 Kinder von 55 Zürcher Schulen untersucht. «Allerdings muss man diese Befunde in Relation zu den 275 Klassen setzen, die wir untersucht haben», sagt Kriemler. «Insgesamt waren nur einzelne Klassen von Ausbrüchen betroffen, und in keiner Schule zeigte sich eine Häufung von Infektionen über alle Klassen und Stufen hinweg.»

Suche nach Antikörpern im Blut

Die Studie untersuchte zweimal, ob Schülerinnen und Schüler Antikörper gegen das neuartige Coronavirus im Blut hatten. Im Frühjahr war das bei 2, im Herbst bei 8 Prozent der Kinder der Fall. Trotz dieser Vervierfachung sei es sehr wahrscheinlich, dass Infektionen übersehen wurden.

«Die meisten infizierten Kinder entwickeln keine Symptome», erklärt Christian Kahlert, Leiter der Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital St. Gallen. «Und wir wissen von den Erwachsenen, dass Antikörper bei milden Verläufen oft nicht nachweisbar sind oder nur sehr kurz.» Auch Kriemler schätzt, dass mindestens 20 Prozent der Infektionen nicht entdeckt wurden.

In Österreich hat man deshalb fast 11'000 Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren nicht auf Antikörper, sondern auf den Erreger selbst untersucht. Die repräsentative Studie wies das Virus im Herbst bei 1,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler nach. Diese Zahlen sind im Vergleich zur «Ciao Corona»-Studie viel niedriger, weil nur bestimmt wurde, wer aktiv infiziert ist, während Antikörpertests auch vergangene Ansteckungen aufspüren können.

«Kinder werden nicht magisch vom Virus verschont», sagt Michael Wagner vom Zentrum für Mikrobiologie an der Uni Wien, der wissenschaftliche Koordinator der Studie. «Anders als oft behauptet, stecken sie sich an und sind auch selbst infektiös, wobei noch nicht ausreichend erforscht ist, wie ansteckend sie im Vergleich zu Erwachsenen sind.» Eine zeitgleich durchgeführte österreichweite Studie bei Menschen über 16 Jahren habe ähnlich hohe Werte ergeben wie die Schulstudie.

In der Schweiz gibt es keine vergleichbare Studie. «Die Anzahl positiver Schulkinder spiegelt das Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung wider», sagt aber Susi Kriemler. Sie hatte keine Unterschiede in der Zahl der infizierten Kinder je nach Alter zwischen 6 und 14 Jahren beobachtet. Das war auch in Österreich so.

Unterschiede nach Quartier

«Im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird, sind jüngere Schüler nicht weniger oft infiziert als ältere – und Lehrer sind genauso häufig betroffen», sagt Michael Wagner. «Einen grossen Unterschied gab es aber: In Schulen, die sich in sozioökonomisch schlechtergestellten Quartieren befinden, gab es mehr als doppelt so viele Corona-Infektionen.»

Über die Gründe könne man nur spekulieren – denkbar sei, dass beengte Wohnverhältnisse dazu beitragen oder dass Schutzmassnahmen aufgrund von Sprachbarrieren nicht verstanden würden. In der Zürcher Studie konnte dies aber nicht festgestellt werden. «Es spielen sehr viele Faktoren eine Rolle», sagt Kriemler. «Etwa auch, wie gut Schulen Hygienekonzepte umsetzen.»

Genau in bildungsfernen Milieus wäre es verheerend, die Schulen zu schliessen. «In sozioökonomisch schlechtergestellten Familien leiden Kinder pädagogisch und sozial besonders unter Schulschliessungen. Das wissen wir aus der ersten Welle», sagt Kriemler. «Das würde im Moment in keinem Verhältnis zu den Fallzahlen stehen.»

Gurgelnd zum Monitoring

Wie könnte man also das Infektionsgeschehen in Schulen eindämmen, ohne Kindern zu schaden? Michael Wagner schlägt vor, regelmässig sogenannte Klassen-Pool-Tests zu machen. «Schon Kinder in der ersten Klasse können sie gurgeln», sagt er. «Schüler könnten das zu Hause machen, die Lösung in die Schule mitbringen – und mit der zusammengeschütteten Flüssigkeit könnte man dann einen PCR-Test machen.» Sobald ein solcher Test positiv wäre, würde man Einzeltests in der jeweiligen Klasse machen. So wäre mit wenig Aufwand ein gutes Monitoring in Schulen möglich.

Bislang sind die Schulen in den meisten Kantonen aber weit entfernt von einem Corona-Monitoring. Von den angefragten Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Bern, Zürich und Graubünden hat nur der letztgenannte ein Pilotprojekt zum Routinetesten dreier Schulen aufgelegt.

«Kinder, die Symptome haben, bekommen fast nie einen Test – dabei wüssten wir im Kollegium schon gern, ob das Virus bei uns zirkuliert.»

Primarlehrer aus Zürich

Oft werden nicht einmal Kinder mit Symptomen getestet. Ein Primarlehrer aus Zürich berichtete dem Beobachter, dass, selbst als ein Kind in einer sechsten Klasse positiv getestet wurde, keine weiteren Kinder getestet werden sollten. «Das ist erst auf Druck der Schulleitung beim Schulärztlichen Dienst mehrere Tage verzögert passiert.»

Darauf zeigte sich, dass mehrere Kinder infiziert worden waren. «Kinder, die Symptome haben, bekommen fast nie einen Test – dabei wüssten wir im Kollegium schon gern, ob das Virus bei uns zirkuliert.» Ein Sprecher der Bildungsdirektion des Kantons Zürich dementierte diese Darstellung nicht.

Die Situation in den Schulen besser im Blick zu halten, wäre gerade wegen der Virusmutante aus England sinnvoll. «Erste Daten aus England deuten an, dass die neue Virusmutante bei Kindern öfter vorkommt», sagt Wagner. «Wenn sich das bestätigt, ist dies ein zusätzliches Risiko für die Schulen.»

Laut BAG gibt es aber weder eine Strategie, um Ausbrüche in Schulen zu entdecken, noch werde die genetische Sequenz bestimmt. «Ciao Corona»-Autorin Kriemler sagt: «Sollte diese Variante sich bei uns ausbreiten, müssen wir neu bewerten, ob Schulschliessungen in Frage kommen.»

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