Das Herz hat viel zu sagen. Pausenlos kommuniziert es mit dem Gehirn – und beeinflusst unsere Zeitwahrnehmung. Wenn sich der Herzmuskel zusammenzieht, fühlt sich der Moment für uns kürzer an. Wenn er sich entspannt, kommt uns der Augenblick länger vor.

Die kleine Zeitverzerrung kann grosse Folgen haben, etwa im Strassenverkehr. Das fanden britische Forschende heraus, als sie den Herzschlag von Freiwilligen bei einer Fahrsimulation aufzeichneten. Dabei tauchten unvermittelt Hindernisse vor den Probanden auf – entweder gezielt während des Herzschlags, also während sich der Herzmuskel zusammenzog (Systole), oder zwischen den Schlägen (Diastole). Während der Systole war die Reaktionszeit der Fahrerinnen und Fahrer langsamer und dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls grösser. Dabei ging es um Zehntelsekunden.

Auf den Herzrhythmus horchen

Überall dort, wo es auf Bruchteile eines Augenblicks ankommt, fällt das Zusammenspiel von Herz und Verstand ins Gewicht. Sei es bei der Bedienung von Maschinen, dem Einsatz tödlicher Waffen oder dem Spielen von Instrumenten.

Womöglich entgeht der Mensch der kleinen Zeitverzerrung beim Musizieren und Tanzen auf unbewusste Weise. Forschende fanden heraus, dass professionelle Tänzer oder Musikerinnen ein besseres Gefühl für ihren Herzschlag haben als andere Menschen. Ohne ihren Puls zu fühlen, können sie in ihren Körper hineinhorchen und den Moment der Systole genauer erfassen.

Diese Fähigkeit kann im Grunde jeder erlernen, aber manchen fällt sie leichter. Dazu gehören auch Menschen mit einer hohen emotionalen Intelligenz. Wieso jene, die die Gefühle ihrer Mitmenschen und ihre eigenen zutreffend erfassen, ein besseres Gespür für den eigenen Herzschlag haben, ist unklar. Fest steht: Die Wahrnehmung des Herzschlags lässt sich mit Hilfe von Achtsamkeitstraining und Yoga üben – und ist zu empfehlen. Gerade an anstrengenden Tagen, an denen wir kaum Zeit für Entspannung haben, kurz in sich zu kehren und bewusst dem eigenen Herzrhythmus zu folgen, lindert laut Forschenden die innere Unruhe und den Stress.

«Die Systole ist der Zeitpunkt, in dem die innere Welt regiert», schreibt die britische Neurokardiologin Sarah Garfinkel. Sie ist der Zeitpunkt, in dem das Gehirn am wenigsten empfänglich auf die Umwelt reagiert und die Verarbeitung äusserer Reize gedämpft ist. Deswegen fühlt sich während der Systole ein kleiner Nadelstich weniger schmerzhaft an als zwischen den Schlägen. Auch feine Reize wie schwache elektrische Impulse und sanfte Berührungen nehmen wir weniger deutlich wahr.

Sogar unsere Erinnerung beeinflusst der Herzschlag. Wörter, die Studienteilnehmer während ihrer Systole sahen, vergassen sie häufiger. Die kleinen Gedächtnislücken sind bei Menschen mit gesunder Herztätigkeit normal. Aber das enge Zusammenspiel von Herz und Hirn könnte laut Forschenden erklären, weshalb Herzkranke bisweilen grössere Probleme beim Erinnern und bei Denkaufgaben haben, obgleich ihr Gehirn intakt ist.

Von der Theorie zur Praxis

Das Herz kommuniziert auf mehreren Wegen mit dem Gehirn, etwa mit Hilfe von Hormonen und über das Nervensystem. Besonders wichtig scheinen die Blutdrucksensoren in der Aorta. Diese sogenannten Barorezeptoren feuern während jeder Systole in starken Schüben. So weiss das Gehirn, dass das Herz den Körper mit Blut und damit mit Sauerstoff versorgt. Der Austausch zwischen dem Denkorgan und dem Herzen ist überlebenswichtig. So wichtig, dass die Systole auch Aktivitäten im Gehirn dämmt, die eine Rolle für unser Bewusstsein spielen.

Beobachtungen wie diese könnten künftig weitreichende praktische Folgen haben – etwa für Menschen im Wachkoma. Wie ihr Gehirn auf den Herzschlag reagiert, könnte Informationen über den Bewusstseinszustand der Betroffenen liefern. Die grosse Herausforderung besteht darin, diese neurokardiologischen Erkenntnisse in die medizinische Praxis umzusetzen.