Mehr Aufmerksamkeit für Achtsamkeit
Achtsamkeitstrainings im Job sind gefragt wie nie. Was bringen sie?
Veröffentlicht am 27. Oktober 2022 - 17:46 Uhr
Unter Burn-outs leiden die Betroffenen – aber auch die Firmen, weil der Ausfall von Angestellten hohe Kosten verursacht. Zwischen 2012 und 2018 stiegen die Absenzen aufgrund psychischer Gründe um rund 70 Prozent. Die daraus entstandenen volkswirtschaftlichen Kosten werden auf 8 bis 10 Milliarden Franken geschätzt.
Dazu kommt: Die Pandemie dürfte diese Entwicklung noch befördert haben. «Durch Covid und den digitalen Wandel ist der Arbeitsalltag viel komplexer geworden», bestätigt die Organisationspsychologin Angelika von der Assen. «Früher war unsere Arbeitsweise durch Planbarkeit und Expertise bestimmt. Heute schaffen neue Arbeitsmodelle und -methoden vermehrt Unsicherheit und überfordern viele.»
Von der Assen führt seit 2015 zertifizierte Achtsamkeitskurse in Unternehmen durch, unter anderem «Search Inside Yourself», ein von Google entwickelter Workshop für Führungskräfte und Mitarbeitende. «Das Programm wurde für die westliche Arbeitswelt konzipiert», sagt die Trainerin. Es sei weltanschaulich neutral, nicht zu abstrakt und könne schnell und praktisch angewendet werden. Achtsamkeitspraktiken im Job sollten kurz, in den Berufsalltag einplanbar sein und über die Stärkung des eigenen Wohlbefindens hinausgehen, so von der Assen.
In ihren Workshops, die auch online durchgeführt werden, regt sie die Teilnehmenden oft an, sich zu überlegen, wie sie Achtsamkeitspraktiken in ihren Berufsalltag integrieren können. Es müsse nicht immer gleich eine 45-minütige Meditation sein. Oft würden schon kleine Veränderungen einen Unterschied machen. «Sich zu Beginn eines Meetings oder bei Schichtübergabe kurz Zeit zum Ankommen nehmen, tief durchatmen, während der Laptop aufstartet, oder anderen in einer Besprechung die volle Aufmerksamkeit schenken», nennt sie ein paar Beispiele. «Letztlich geht es immer ums Bewusstsein – statt im Autopilot durch den Tag zu taumeln, präsent und voll da zu sein.»
Das Google-Programm kombiniert Neurowissenschaft, Achtsamkeitstraining und emotionale Intelligenz. Man lernt, die eigenen Gefühle und Emotionen und die seiner Kollegen und Chefinnen wahrzunehmen, zu unterscheiden und sich dadurch im Denken und Handeln leiten zu lassen. «Emotional intelligent ist beispielsweise, wer sich vom Frust anderer nicht mitreissen lässt, empathisch ist und wahrnehmen kann, wie fest er oder sie gestresst ist», sagt von der Assen. Langfristig soll man durch das Programm mehr Freude an der Arbeit haben, sie als sinnhafter erfahren und weniger Druck verspüren. Und leistungsfähiger werden.
Da drängt sich die Frage auf: Geht es den Unternehmen nicht vor allem um Letzteres? Es sei eine Win-win-Situation, ist von der Assen überzeugt. Wenn man geduldig übe und dranbleibe, können sich durch Achtsamkeitstraining Motivation, Kommunikation im Team und der Umgang mit Stress verbessern. Logisch, dass das Burn-out-Risiko dann sinke. Davon profitierten Mitarbeitende und Firmen gleichermassen, gleichzeitig steigen Produktivität und Innovationskraft, so von der Assen.
«Grossbritannien, die USA und skandinavische Länder sind viel weiter.»
Martina Brunnthaler, Achtsamkeitstrainerin
Für die Psychologin und Achtsamkeitstrainerin Martina Brunnthaler von der psychologischen Beratungsstelle der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften haben solche Achtsamkeitstrainings aber auch etwas Widersprüchliches. «Einerseits geht es im Arbeitsleben um Selbstoptimierung, gleichzeitig praktizieren wir mit Achtsamkeit einen Gegenentwurf dazu, indem wir unsere Selbstwahrnehmung und -akzeptanz schulen.» Es seien deshalb nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch die Unternehmen gefragt. «Sie stehen in der Verantwortung, zumutbare und gesundheitsfördernde Strukturen zu bieten.»
Die Akzeptanz solcher Trainings steigt – bei Firmen wie bei den Mitarbeitenden. «Früher musste ich die Unternehmen anfragen, heute werde ich angefragt», stellt Angelika von der Assen fest. Anfänglich hätten vorwiegend IT-Firmen einen Workshop gebucht, mittlerweile seien auch KMU, Ämter und Grossbanken interessiert.
Im internationalen Vergleich hinke die Schweiz jedoch hinterher, sagt Martina Brunnthaler. «Grossbritannien, die USA und skandinavische Länder sind viel weiter. Was Mental Health angeht, sind wir hierzulande eher verhalten unterwegs.» Immerhin: Seit der Pandemie seien psychische Leiden und deren Behandlung breiter akzeptiert.
Der Beobachter-Gesundheits-Newsletter. Wissen, was dem Körper guttut.
Lesenswerte Gesundheitsartikel mit einem wöchentlichen Fokusthema. Jeden Montag.
1 Kommentar
Guter Artikel. Eine achtsame Persönlichkeit dürfte sowohl privat als auch beruflich entsprechend agieren. Woher die Inspiration zur Achtsamkeit erstmals stammt, erscheint mir nicht wichtig. Der Zeitpunkt dünkt mich relevant: Je früher, desto besser: Wenn man das Thema Achtsamkeit in die Erziehung oder im Schulunterricht integrieren könnte, profitierten im späteren Berufsleben idealerweise womöglich alle davon.