Beobachter: Was können Tiere in der Therapie besser als Menschen?
Suzanne von Blumenthal: Sie kommunizieren anders. Tiere sprechen nicht. Das heisst auch, dass sie nicht kritisieren. Und sie sind zutraulich – vor allem Katzen und Hunde. Man kann sie streicheln, sie schmusen – es ist eine ganz andere Art der Kontaktaufnahme als mit Menschen. Bei Tieren kommt immer etwas zurück, es ist ein Erlebnis. Und der kranke Mensch begegnet einem Tier auch anders als einem Therapeuten. Bei Letzterem spielen immer Assoziationen mit, Erinnerung an Frauen und Männer, an Sympathien oder Antipathien.

Beobachter: Aber nicht alle Menschen mögen Tiere.
von Blumenthal: Ja, natürlich. Aber die meisten Menschen haben einen positiven Bezug zum Tier – unabhängig davon, ob sie selber jemals eines gehabt haben. Vertrauen zu einem Tier ist deshalb für viele einfacher aufzubauen als zu einem Menschen. Und bei jeder Therapie geht es darum, Vertrauen aufzubauen. Depressive haben oft zu wenig Vertrauen in andere und vor allem auch zu wenig Selbstvertrauen. Vertrauen ist jedoch das Gegenstück zur Angst. Bei den meisten psychischen Störungen, auch bei der Depression, ist deshalb die Angst die stärkste Emotion, die einer Gesundung im Wege steht.

Beobachter: Wird dazu je nach Patient ein anderes Tier eingesetzt – je nachdem, ob jemand eher ein Katzen-, ein Hunde- oder ein Pferdetyp ist?
von Blumenthal: Nein, nicht prinzipiell. Lediglich in Altersheimen, bei dementen Personen, eignen sich Katzen besser. Man kann sie streicheln, sie schnurren. Bei Depressionen setzt man vor allem Hunde und Pferde ein.

Beobachter: Warum gerade diese beiden Arten?
von Blumenthal: Hunde aktivieren. Man muss mit einem Hund raus und laufen gehen, mit ihm spielen, einfache Übungen machen. Die Patienten sind dann auf das Tier fokussiert, sie vergessen zum Beispiel, dass sie Schwindel haben oder müde sind.

Therapie mit Tieren: Vorsicht vor Scharlatanen

Tiergestützte Therapien kann im Prinzip jeder anbieten. Um aber tiergestützte Interventionen sach- und fachgerecht einzusetzen, brauchen Mensch und Tier 
eine adäquate Ausbildung. Wer sich einem Therapeuten oder einer Therapeutin anvertraut, sollte deshalb darauf achten, dass die Person an einer akkreditierten Ausbildungsinstitution (ESAAT oder ISAAT) ausgebildet wurde.

Weitere Infos

  • Gesellschaft für tiergestützte Therapie und Aktivitäten: www.gtta.ch
  • Die Dargebotene Pfote ist die Fachstelle für tiergestützte Therapie/Pädagogik, Ausbildung und Beratung: www.dargebotenepfote.ch

Beobachter: Es braucht also den direkten Kontakt zu einem Tier? Es genügt nicht, in einen Zoo zu gehen oder zu Hause Rennmäuse im Käfig oder Guppys im Aquarium zu beobachten?
von Blumenthal: Der Patient muss aktiv mit dem Tier sein. Aber natürlich kann allein schon die Tatsache, dass man sich um ein Tier kümmern muss, einen positiven Effekt haben. Doch Schlangen kommen einem zur Begrüssung nicht wie Hunde freudig entgegengelaufen. Da fehlt die soziale Komponente. Was gut funktioniert, was wir aber in der Schweiz nicht haben, ist die Therapie mit Delfinen.

Beobachter: Wie funktioniert die Therapie konkret?
von Blumenthal: Es sind wöchentlich zwei bis drei je halbstündige Therapiesitzungen. Man führt die Patienten an das Tier heran, geht mit ihnen spazieren, macht leichte Übungen – je nach Alter und Art des Patienten andere –, lässt sie miteinander spielen. Wir kennen in der Region verschiedene Hundehalter, die uns via Hundeverein vermittelt werden. Bei der tiergestützten Therapie mit Pferden fahren wir zu entsprechenden Pferdestallungen in der Umgebung.

Beobachter: Was ist bei Pferden anders?
von Blumenthal: Auch beim Pferd geht es um Kontaktaufnahme und Vertrauensbildung. Es ist ähnlich wie beim Hund, aber beim Pferd kommt das Aufsitzen hinzu. Dadurch gerät der Körper in Schwingungen, und er entspannt sich. Das ist dann schon eine eigentliche Bewegungstherapie. Mit dem Aufsitzen fängt man natürlich nicht sofort an. Man beginnt mit dem Bürsten und Striegeln des Pferdes, dem Führen am Zaum, mit Übungen, dem Aufsitzen bis hin zum Reiten. Dazu braucht man speziell ruhige und gutmütige Pferde, also keine Rennpferde.

Beobachter: Die Klinik Mentalva in Cazis, in der Sie arbeiten, bietet seit fünf Jahren tiergestützte Therapien an. Mit Erfolg?
von Blumenthal: Dazu ein Beispiel: Wir hatten jemanden, der total in sich gekehrt war und mit niemandem sprach. Über das Tier hat er sich geöffnet, fing an, mit dem Tier zu reden und dann auch mit uns. Der Erfolg ist natürlich je nach Patient unterschiedlich.

Beobachter: Und der Erfolg hält an?
von Blumenthal: Wenn es gelingt, über die Therapie mit Pferden wieder in die Balance zu kommen und den eigenen Körper neu zu spüren, ist es mehr als Symptombekämpfung. Man lernt, sich zu entspannen. Allerdings muss ich betonen, dass die tiergestützte Therapie die psychiatrische Behandlung nicht ersetzt, sondern ergänzt.

Beobachter: Wird die tiergestützte Therapie von den Krankenkassen bezahlt?
von Blumenthal: Nein, nicht bei psychiatrischen Therapien. Wir bieten diese Therapieform im Rahmen unserer Halbprivat- und Privatleistungen an. Das Problem entsteht vor allem bei der Fortsetzung, nach der Entlassung aus der Klinik. Wenn man sieht, dass der Umgang mit Pferden jemandem guttut, muss er trotzdem eine entsprechende ambulante Fortsetzungstherapie selber bezahlen.

Beobachter: Gibt es Risiken und Gefahren bei der tiergestützten Therapie?
von Blumenthal: Theoretisch kann ein Hund auch mal beissen oder ein Pferd ausschlagen oder losgaloppieren, aber bei uns ist das noch nie vorgekommen. Die Hundeführerin oder der Pferdetrainer sind ja immer dabei. Und man schaut schon, dass nicht einfach irgendwelche Tiere zum Einsatz kommen. Sie werden umfassend geschult und sind zertifiziert für die tiergestützte Therapie, sowohl der Hund oder das Pferd als auch die Tiertherapeutin.

Depression

Hoch zu Ross: Reittherapeutin Brigitte Kunz (rechts) mit ihrer Patientin Claudia.

Quelle: Samuel Trümpy

Beobachter: Wie sieht es mit den Tieren aus? Besteht nicht die Gefahr, sie zu überfordern?
von Blumenthal: Es gibt klare Vorgaben, wie oft und wie lange man ein Tier pro Tag und Woche einsetzen darf.

Beobachter: Gibt es Erkenntnisse darüber, ob Personen, die mit Tieren aufwachsen, seltener an Depressionen erkranken?
von Blumenthal: Das kann man so nicht sagen. Ich kann das jedenfalls nicht bestätigen, wenn es um eine ernsthafte Depressionserkrankung geht. Hingegen können Tiere im Haushalt bei leichten Stimmungsschwankungen oder nach dem Tod einer geliebten Person durchaus helfen.

Beobachter: Man müsste also jemandem mit Depressionen eher ein Haustier auf Rezept verschreiben als ein Antidepressivum?
von Blumenthal: (Lacht) Auf Rezept geht das natürlich nicht. Aber ich habe schon einer Patientin geraten, sich einen Hund anzuschaffen, um sie aus der Vereinsamung zu lösen. Es gibt auch immer die Möglichkeit einer ambulanten tiergestützten Therapie, die aber von den Krankenkassen nicht bezahlt wird. Dabei ist das eine günstige Behandlung, gerade im Vergleich zum Einsatz von Medikamenten. Die Finanzierung ist allerdings ein grundsätzliches Problem bei komplementären Behandlungsmethoden, die man generell mehr einsetzen und fördern sollte – in der Praxis und in der Forschung.

Zur Person

Suzanne von Blumenthal, 56, lebt mit ihrer Familie, mit Pferden und Katzen in Rodels GR. Sie hat während fast 30 Jahren für die Psychiatrischen Dienste Graubünden gearbeitet, davon 22 Jahre als Chefärztin. In dieser Zeit war sie unter anderem am Aufbau der Privatklinik Mentalva in Cazis beteiligt. Seit Februar dieses Jahres ist sie als selbständige Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie als Belegärztin in der Klinik Mentalva tätig, die seit fünf Jahren tiergestützte Therapien bei depressiven Patienten einsetzt.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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