Unter Trauma-Psychiatern kursiert die Theorie, dass organisierte Tätergruppen bei ihren Opfern absichtlich eine dissoziative Identitätsstörung erzeugen, um sie über abgespaltene Bewusseinsanteile kontrollieren zu können. Um die angeblichen Opfer zu schützen, sollen sie über elektronische Fussfesseln überwacht werden. 

Beobachter: Herr Maier, gibt es Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung, also dem, was man früher landläufig eine multiple Persönlichkeit nannte?
Thomas Maier: Die dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS, ist eine relativ seltene psychische Erkrankung. Sie kann auf der Grundlage von schweren, zumeist länger anhaltenden Traumatisierungen mit Beginn in der Kindheit entstehen. Die Existenz der Störung ist umstritten und wird immer wieder generell in Frage gestellt. Ohne hier den Stand der wissenschaftlichen Debatte aufzurollen, würde ich sagen, dass es diese Störung sicherlich gibt und dass sie als Teil einer Bewältigungs- und Abwehrstrategie bestimmten Patientinnen und Patienten zur Aufrechterhaltung der emotionalen Stabilität dient. 


In der Psychotraumatologie gibt es Therapeuten, die davon überzeugt sind, dass es im Bereich der organisierten sexuellen Gewalt Tätergruppen gibt, die bei ihren Opfern schon in der Kindheit oder Jugend eine DIS absichtlich herbeiführen. Sie würden ihre Opfer dann über einzelne Persönlichkeitsanteile mittels Bewusstseinskontrolle, auch Mind Control genannt, steuern, sogar ohne direkten Kontakt. Ist so etwas möglich?
Die Störung ist zwar in gewisser Weise «man-made», aber auf keinen Fall so, wie sich das die Protagonisten dieser Ideologie vorstellen. Die Störung ist viel zu komplex und auch individuell, als dass sie gezielt induziert werden könnte, erst recht nicht bei Kleinkindern oder gar Säuglingen. Dass man so etwas annehmen kann, entspringt meiner Meinung nach einem naiven Irrglauben. Es gibt jedenfalls keinerlei Belege oder Beweise, dass so etwas möglich ist. 
 

Wie entsteht denn eine DIS?
Die Störung manifestiert sich typischerweise im Rahmen von längeren, intensiven Therapien. Das gibt einen Hinweis darauf, dass sie – wie viele andere psychische Adaptationsmechanismen auch – in einen interpersonellen Kontext eingebettet ist. Die Störung tritt also nicht losgelöst «im stillen Kämmerlein» oder auf «der einsamen Insel» auf, sondern dort, wo bestimmte Verhaltensweisen und Symptome von der Umgebung und von den engen Bezugspersonen positiv verstärkt werden.


Also in der Familie?
Nein. In erster Linie sind es therapeutische Fachpersonen, etwa Psychologinnen, Ärztinnen, Pflegefachpersonen, die meist ohne explizite Absicht dissoziatives Verhalten mit Aufmerksamkeit und Interesse beantworten und diese Mechanismen damit verstärken. Da diese Vorgänge den Therapeutinnen selbst unbewusst sind, haben sie nicht den Eindruck, dass sie die Störung hervorrufen, sondern dass diese von selbst entsteht.


Dass Beweise für Mind Control fehlen, führen die Vertreter dieser Ideologie darauf zurück, dass die «Tätergruppen» neben ihrem Spezialwissen zu Psychotraumatologie auch über fundierte Kenntnisse zur Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft verfügten. Und dass sie ausreichende finanzielle Möglichkeiten hätten, um sich eine kompetente Strafverteidigung zu leisten.
Wie immer bei «Verschwörungstheorien» ist die Argumentation der Befürworter zirkulär, deshalb nicht widerlegbar: Sie sehen Patientinnen, die das so erlebt haben wollen. Ergo sei das bewiesen. Jene, die das in Frage stellen, verleugnen hingegen Traumatisierungen und seien mit den Tätern im Bunde.
 

Wie kommen gebildete Menschen auf solche Ideen?
Die Vorstellung, dass es so komplexe psychologische Beeinflussungstechniken geben könnte, erinnert fast an magisches Denken, Kinderglauben oder Science-Fiction. Aber auch gewisse Sekten oder andere geschlossene Zirkel von Verschwörungstheoretikern haben als Teil ihrer Ideologie einen Glauben an raffinierte psychologische Beeinflussungstechniken. So etwas scheint also viele Menschen zu faszinieren. Das Denken dieser Menschen ähnelt den Ideen von Spiritisten oder Parapsychologen. 


Als Schutzmassnahme für angebliche Opfer waren auch schon elektronische Fussfesseln im Gespräch. Was halten Sie davon?
Das scheint mir eine groteske Überreaktion zu sein oder auch eine Umkehr der Opfer-Täter-Logik. Im Bestreben, die Opfer vor den Übergriffen raffinierter Überwachungsorganisationen zu schützen, sollen Patientinnen gewissermassen mit Überwachungstechnik vor Unheil bewahrt werden. Auch hier erscheinen die Anhänger der Verschwörungstheorien besessen von «Räuberfantasien», die naiv anmuten. Unbewusst gleichen sich die Anhänger solcher Ideen den vermeintlichen Tätern an: Sie wollen die Opfer mittels Überwachungstechnik umfassend kontrollieren und bringen sie damit erst recht in Abhängigkeit und Ohnmacht.


Welche Auswirkungen würden Fussfesseln auf die Opfer haben?
Sehr schädliche: Sie würden bei betroffenen Patientinnen, die meist schon durch Missbrauch traumatisiert sind, das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins verstärken. Um der vermeintlichen Bedrohung durch Täter zu entkommen, liefern sie sich in Tat und Wahrheit in auswegloser Weise den Therapeuten aus. 

Zur Person

Thomas Maier ist ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen. 

Er untersuchte im Auftrag der Berner Gesundheitsdirektion als Gutachter die Vorgänge im Psychiatriezentrum Münsingen, nachdem der Beobachter aufgedeckt hatte, dass dessen ärztlicher Direktor mit der Psychosekte Kirschblütengemeinschaft verbandelt war. Maier stiess dabei auch auf Führungsmängel im Umgang mit den Themen «dissoziative Identitätsstörung», «rituelle Gewalt» und «Mind Control».

Thomas Maier, Ärztlicher Direktor Psychiatrie St. Gallen Nord. Der Psychiater und Gutachter Thomas Maier hält Mind Control für eine Verschwörungstheorie und elektronische Fussfesseln für Opfer für sehr schädlich.
Quelle: ZVG