«Im Museum blühen die Demenzkranken auf»
Die Psychologin Karin Wilkening begleitet Menschen mit Demenz ins Museum. Und lässt sie zu Gemälden Geschichten spinnen – mit erfreulichen Erkenntnissen.
Aufgezeichnet von Claudia Imfeld
Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in einem Altersheim mit Demenzkranken. Es war um die Mittagszeit, und ich sah, wie zwei Frauen gebratene Röstitaler mit dem Finger aufspiessten. Das hatte ich als Kind auch immer gewollt, aber meine Mutter sagte stets, mit Essen spiele man nicht. «Wer also ist hier eingeschränkt?», fragte ich mich.
Die Frage, wie Betroffene und Angehörige mit der Krankheit Demenz umgehen, beschäftigt mich als Psychologin schon lange. Ich habe die Deutsche Alzheimergesellschaft mitbegründet und viele Angehörigengruppen initiiert. Vor einigen Jahren erfuhr ich von der Timeslips-Methode, die mit Bildern und spezieller Fragetechnik Demente dazu bringt, ihre Fantasie zu entfalten. Nach meiner Pensionierung als Professorin initiierte ich am Zentrum für Gerontologie der Uni Zürich das Projekt «Aufgeweckte Kunst-Geschichten», das die Methode im Museum einsetzt. Die Resultate zeigen, dass diese Art der Kunstbegegnung bei Dementen und Angehörigen viel bewegen kann.
Während der Museumsbesuche stehe ich vor der Gruppe und beginne mit: «Ich freue mich, dass Sie heute hier sind. Ich habe für Sie ein Bild ausgesucht und bin überzeugt, dass darin eine Geschichte schläft. Gemeinsam werden wir diese zum Leben erwecken. Sie können dabei nichts Falsches sagen.» Schon diese Einleitung ist für Menschen mit Demenz etwas Ungewohntes. Üblicherweise werden ihnen Fragen gestellt, bei denen es ein Richtig oder Falsch gibt: «Weisst du, wer das auf dem Foto ist?» – «Was haben Sie gestern gegessen?» – «Welchen Wochentag haben wir?» Im schlimmsten Fall hören sie dauernd, dass ihre Antworten nichts mit der Realität zu tun haben und sie «spinnen».
Viele sind verunsichert, wenn ich sie auffordere, etwas zu erfinden. Ich frage, was im Bild passiert, wie die Figuren zueinander stehen und mit welcher sie gern Kaffee trinken würden. Bei der ersten Sitzung finden die Teilnehmer dann manchmal: «Sagen Sie es uns, Sie kennen doch die Antwort.» Aber ich gebe bewusst keine Antworten, ich spiegle nur das Gesagte. Manche melden sich von sich aus, andere locke ich aus der Reserve. Am besten geht das bei mehrdeutigen Situationen, etwa wenn jemand auf dem Bild nackt ist. Da entstehen Emotionen.
Die Langsamkeit fordert mich am meisten heraus. Ich schaue in die Gesichter und sehe, dass etwas in Produktion ist. Manchmal platze ich fast vor Neugier, was kommt. Aber ich habe gelernt zu warten. Alles wird wörtlich notiert. Die Protokollantin liest das bereits Vorhandene immer wieder vor. Ich sage jeweils, das sei für mich – als Erinnerungsstütze. Im Lauf des Treffens entsteht eine Geschichte, keine wohlformulierte, aber oft eine lustige, skurrile. Diese verteilen wir den Teilnehmenden später als Broschüre.
Es sind immer Familienmitglieder dabei. Das ist wichtig. Die wissenschaftliche Auswertung des Projekts hat ergeben, dass die Museumsbesuche langfristig zu mehr positivem Austausch zwischen der dementen Person und ihrer Begleitung führen. Die Angehörigen sehen Mutter oder Vater in einem anderen Licht. Im Museum blühen die Demenzkranken auf, lachen, oder es zeigt sich, dass sie etwas noch können, was ihre Angehörigen bereits verloren glaubten. Ihr Humor oder ihre Beobachtungsgabe kommt wieder zum Vorschein.
Einmal war in der Gruppe eine Tessinerin. Da übersetzte eine andere Teilnehmerin plötzlich einzelne italienische Wörter. Ihr Mann war völlig überrascht. Der gemeinsame Besuch liefert ausserdem Gesprächsthemen, die über die typische Konversation von «Hast du deine Tabletten genommen?» hinausgehen.
Im Museum fühlen sich die Demenzkranken ein wenig wie Stars. Die anderen Museumsbesucher schauen interessiert; sie glauben offenbar, es handle sich um eine Expertengruppe. Das spornt an. Vor diesem Projekt hatte ich keine besondere Beziehung zu Museen. Für mich waren sie Orte für Kunstsachverständige. Und dazu zählte ich nicht. Als ich dann durch die Hallen ging und für das Projekt Bilder aussuchte, ohne viel über Maler, Hintergründe und Gemäldewert zu wissen, war das wie ein Geschenk. Heute traue ich mich auch mal mit Freunden an eine Vernissage.
Ich erlebe immer wieder, dass die Demenzkranken spontaner und experimentierfreudiger sind als Nichtdemente. Ich glaube, uns blockieren gesellschaftliche Normen und das Vorwissen. Das hindert uns daran, über ein Bild mit Maria und Jesuskind, aber ohne Josef, zu sagen: «Wahrscheinlich ist ihr der Mann davongelaufen.»