Als sie zum ersten Mal in die Praxis des Heilers kam, war sie 36 Jahre alt, er 60. Maya Hediger* litt unter Bulimie und Magersucht, hatte Depressionen. Mit neun war sie von einem fremden Mann vergewaltigt worden. «Seit ich denken kann, habe ich mich jeden Tag übergeben», wird die Frau später vor Gericht aussagen. Sie erhielt eine IV-Rente, «mithin wegen einer seelischen Krankheit». So steht es im Gerichtsurteil.

Maya Hediger hatte den Heiler im Sommer 2014 angezeigt, nachdem sie an Krebs erkrankt war. Im November 2014 wurde er zu sechs Monaten bedingt verurteilt. Diesen Frühling ist Maya Hediger gestorben.

Vom Arzt überwiesen

Der Mann, seit 1981 offiziell als Naturheiler tätig, praktizierte damals, 1996, in Liechtenstein. Die Gewerbebewilligung lautet auf «geistiges Heilen». Für seine Praxis bezahlte er monatlich 4000 Franken Miete. 1000 Franken erhielt er von seinem Untermieter, dem Arzt Roman Lietha.

Lietha war es, der Maya Hediger empfahl, sich an den Naturheiler zu wenden. Sie war bei ihm in Behandlung wegen der Folgen ihrer Magersucht und einer Osteoporose. Sie war damals sehr mager und psychisch labil. Vor Gericht sagte der Mann: «Dr. Lietha hat schon mehrmals Patienten an mich verwiesen, wenn körperliche Leiden in Zusammenhang mit seelischen Leiden standen und er nicht weiterkam.»

Maya Hediger hoffte, der Naturheiler könne sie davon erlösen, dauernd erbrechen zu müssen. Seine Methoden waren ungewöhnlich. Am Anfang behandelte er sie mit «speziellen chiropraktischen Griffen», später ging er dazu über, während der Behandlungen vor seiner Patientin zu masturbieren. Eines Tages drückte er ihren Kopf in seinen Schoss. Von da an befriedigte Opferschutz Der Vergewaltiger wohnt gleich nebenan sie ihn vor jeder Behandlung oral.
 

Sie werde durch den sexuellen Kontakt «zu ihrer Weiblichkeit zurückfinden», sagte er.


Einmal besuchte der Heiler sie zu Hause – um «die Wohnung mit Ruten auszugleichen», gab er zu Protokoll. Auch bei dieser Gelegenheit liess er sich oral befriedigen. Die körperliche Nähe und die sexuellen Kontakte seien «nützlich für ihre Heilung», sagte er ihr. Sie werde «zu ihrer Weiblichkeit zurückfinden», ihren Körper «wieder lieb bekommen».

«Ich hätte damals wohl ziemlich alles gemacht, um von meinem Leiden befreit zu werden», sagte Maya Hediger vor Gericht.

«Spezieller chiropraktischer Griff»

Der Naturheiler bestritt nicht einmal, dass sich die Patientin von ihm abhängig gefühlt haben musste. Er wusste auch, dass Maya Hediger als Mädchen vergewaltigt worden war. Allerdings habe ihn die Frau nicht vor ausnahmslos jeder Behandlung oral befriedigt, verteidigte er sich. «Das war von Behandlung zu Behandlung unterschiedlich.» Es habe sich dann halt während der Behandlung so ergeben. Für eine halbe Stunde verlangte er von Maya Hediger 100 Franken – mit oder ohne Sex. Sie bezahlte bar. 

Sie habe ihn in Randstunden aufsuchen wollen, so der Heiler, weil man dann in der Praxis alleine war. Auch habe sie immer nach dem «speziellen chiropraktischen Griff» verlangt, bei dem ihr Rücken und der Oberkörper des Heilers «direkt aufeinander waren». Bei anderen habe er diesen Griff nicht angewendet, weil er ja keine chiropraktische Ausbildung habe. «Es gab auch andere Patientinnen, die es auf mich abgesehen hatten», gab er an. Ausser mit Hediger habe er aber keine sexuellen Kontakte gehabt.

«Weshalb haben Sie die Behandlung nicht abgebrochen?», fragte die Richterin Maya Hediger. «Ich verstehe diese Frage, die ist von aussen ja auch berechtigt und gesund. Ich war zum damaligen Zeitpunkt aber nicht gesund.» Sie sei vom Beschuldigten abhängig Opfer einer Straftat Den Täter anzeigen? , ihm hörig gewesen. «Er war quasi meine Hoffnung auf Erlösung vom Erbrechen. Ich lebte während der Behandlungszeit von einem Termin zum anderen.»
 

Sie hatte das Gefühl, den Heiler verraten zu haben. Es folgten schlaflose Nächte, Selbstvorwürfe, Albträume.


14 Jahre lang ging das so. Bis Hediger ihren Heiler weiterempfahl. An eine Schulfreundin, deren Tochter an einer Essstörung litt. Nach dem ersten Besuch meldete sich die Mutter völlig entsetzt bei ihr. Der Heiler habe abstruse Ansagen gemacht. Das brachte Hediger dazu, die Behandlungsmethoden zu hinterfragen. Doch an die Hoffnung, dass der Mann sie heilen könne, klammerte sie sich weiterhin. Immerhin sagte sie ihm, sie wolle keine sexuellen Kontakte mehr. Daran hielt sich der Heiler. Maya Hediger war damals 50 Jahre alt, der Mann 74.

Maya Hediger zog ihre Therapeutin für chinesische Medizin ins Vertrauen. Diese reagierte entschlossen. Sie rief den Naturheiler an und sagte alle weiteren «Therapie»-Termine ab. Maya Hediger hatte aber ein Problem damit. Sie hatte das Gefühl, den Heiler verraten zu haben, und hatte Angst, er werde ihr nicht mehr helfen. Es folgten schlaflose Nächte, Selbstvorwürfe, Albträume.

Zwei Jahre nach dem Behandlungsabbruch stiess Hediger im Internet auf die Opferberatungsstelle Opferhilfe Die Unterstützung «danach» in Zürich. «Lange habe ich mich gar nicht getraut, dort anzurufen, weil ich dachte, ich bin ja selber schuld», sagte sie vor Gericht. «Doch je gesünder ich wurde, desto unerträglicher wurden die Erinnerungen.»

Berechnender Täter

Mirjam Della Betta ist Psychotherapeutin und auf die Beratung von Opfern sexueller Übergriffe spezialisiert. Sie kennt solche Fälle aus erster Hand. «Der geschilderte Fall ist ein krasser Fall, aber kein Einzelfall», sagt sie. Sie höre regelmässig von Frauen und Männern, deren Ärzte oder Therapeuten Grenzen überschreiten.

«Egal, wie persönlich ein Beratungsgespräch ist: Die Privatperson des Therapeuten oder der Therapeutin hat in der Arzt-Patientin-Beziehung nichts verloren.» Dass eine Fachperson eine Abhängigkeit dermassen ausnütze, sei absolut unakzeptabel. Dass die Patientin lange brauchte, um sich zu wehren, sei typisch: «Auch wenn es paradox klingt: Menschen, die Opfer solcher Übergriffe werden, sind keine schwachen Personen, sondern im Gegenteil sehr starke. Sie möchten alles unternehmen und eben auch auf sich nehmen, um gesund zu werden.» 

Was Della Betta auch betont: Jede und jeder kann in ein solch ungutes Abhängigkeitsverhältnis geraten. «Man braucht nicht psychisch krank zu sein – oft reicht eine verzweifelte Situation, eine schlimme Diagnose, der Tod einer nahestehenden Person. Und diese Art Täter weiss ganz genau, wer ein mögliches Opfer ist.» Die Opfer reden nicht darüber. Sie haben das Gefühl, durch die Beziehung aufgewertet zu werden. «Sie denken, sie hätten da etwas Spezielles, was man niemandem verraten dürfe. Genau so funktionieren auch Übergriffe an Kindern, die die Geheimnisse viel zu lang für sich behalten.» 

Berufung abgelehnt

Hediger schwieg lange, aber nicht ewig. Sie zeigte den Mann an. Auch wenn sie wusste, dass sie dafür noch einmal durch die Hölle muss. Lange Zeit befürchtete sie sogar, der Naturheiler, der auch «Ferntherapien» anbietet, könne ihr weiter Schaden zufügen.

Der Mann wurde Ende 2014 in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten und zu 5000 Franken Schmerzensgeld Schmerzensgeld Was erhalten Geschädigte als Genugtuung? verurteilt. Der Heiler zog den Fall vor das Liechtensteiner Obergericht. Seine Berufung wurde abgelehnt. 

Seit dem Ablauf der gerichtlichen Bewährungsfrist im November vergangenen Jahres ist der Verurteilte wieder in seiner Naturheilpraxis tätig. Ausserdem gründete er ein «Institut für Geistiges Heilen». Zweck: die Förderung seiner Naturheilmethode. Neben ihm ist auch Roman Lietha zeichnungsberechtigt – der Arzt, der Hediger an den Naturheiler überwiesen hatte. Er habe, so Lietha, von einem Prozess gehört, in den der Mann verwickelt gewesen sei. Details kenne er aber keine. Dass sein Partner wegen sexueller Übergriffe verurteilt worden ist, will er nicht gewusst haben.
 

«Jeder kann in eine solche Abhängigkeit geraten. Oft reicht eine verzweifelte Situation.»

Mirjam Della Betta, Psychotherapeutin


Der Naturheiler selber schreibt auf Anfrage: «Ich vermute, dass es sich damals um eine Verleumdungskampagne eines Konkurrenten gehandelt hat. Zum Zeitpunkt der Anklage lag der Gegenstand der Klage bereits drei Jahre zurück und war somit verjährt. Die Patientin war psychisch labil und leicht beeinflussbar, deshalb war sie mit der Aussicht auf eine grössere Geldsumme – gefordert war die Rückerstattung der Behandlungskosten von zwölf Jahren sowie eine hohe Schmerzensgeldzahlung – leicht für diese Absichten zu gewinnen.»

Maya Hediger ist diesen Frühling an Krebs gestorben. In der Anzeige hatte sie 2014 geschrieben: «Die Anzeige ist für mich nicht einfach. Ich weiss nicht, ob ich aufgrund meiner Diagnose noch lange leben werde. Mir war es einfach wichtig, das Erlebte darzustellen.» 

«Ich verpflichte mich, meinen Beruf als Naturheiler nach bestem Wissen und Können auszuüben, und verwende nur Methoden, die ich beherrsche und verantworten kann.» Das steht im Ehrenkodex des Liechtensteiner Verbands für Natürliches Heilen und Komplementärmedizin, Der Mann wird auf der Website als Mitglied aufgeführt. Die Anfrage, ob der Verband von der Verurteilung wisse und Massnahmen ergriffen habe, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

*Name geändert

Hinweis: Im ursprünglichen Artikel wurde der Name des Naturheilers genannt. Auf Wunsch und aus Rücksicht auf die Angehörigen sowie aufgrund gesundheitlichen Zustand des Mannes, wurde der Text im Mai 2020 anonymisiert. 

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