Frage: «Schon bei unserer Heirat hatte mein Mann Depressionen. Er leide unter einem Mutterkomplex, hiess es. Immer häufiger reagiert er aggressiv und zynisch und sagt, das hätte er von seiner Mutter. Können Sie mir erklären, was ein Mutterkomplex ist, damit ich mit unseren Problemen besser umgehen kann?» 

Antwort von Koni Rohner, Psychotherapeut FSP:

Sie sind bereits auf einem guten Weg, wenn Sie versuchen, Ihr Verständnis für das Erleben Ihres Mannes zu erweitern. Wenn Sie dies im Gespräch probieren, wird es auch ihn zur Selbstreflexion anregen. Wenn er nicht einfach bei dem zynischen Hinweis stehenbleibt, sondern seine Beziehung zur Mutter genauer anschaut, wird sich automatisch etwas ändern. Das ist ein psychologisches Gesetz: Echte Selbsterkenntnis führt zu einer konstruktiven Veränderung. Genau das geschieht übrigens in einer Psychotherapie, und es wäre natürlich eine Entlastung für Ihre Beziehung, wenn er eine solche Hilfe in Anspruch nehmen würde.

Der Begriff «Mutterkomplex» ist sowohl ein Schlagwort, das von jedermann meist abwertend gebraucht wird, als auch ein Fachbegriff aus der Jungschen Psychologie.

Entgegen der Volksmeinung, ein Komplex sei immer etwas Krankes, bedeutet der Begriff bei C. G. Jung erst einmal ganz neutral «ein Bündel von zusammengehörigen Gefühlen». Beim Mutterkomplex sind es eben Gefühle, die sich auf die eigene Mutter beziehen. Dass dieser Komplex eine grosse Rolle spielt, liegt auf der Hand, hängt doch in der Regel das Überleben des Säuglings in erster Linie von der Mutter ab. Es besteht eine grosse körperliche Nähe, die Mutter wird zum ersten Liebesobjekt. In einer gesunden Entwicklung löst sich das Kind allmählich aus dieser starken Bindung und weitet seine Liebe auf andere Menschen aus. In der Pubertät wird durch die verstärkte Sexualität die Anziehung anderer so stark, dass die Eltern verlassen und neue Beziehungen zum Zentrum des Lebens werden.

Der Mutterkomplex wird nur zum seelischen Störfaktor, wenn diese Ablösung misslingt. Jungsche Psychologen unterscheiden zwischen einem positiven und einem negativen Mutterkomplex.

Beim positiven Mutterkomplex liebt man seine Mutter – auch mütterliche Frauen – und fühlt sich von allem angezogen, was von Weitem an Mütterliches erinnert. Beim negativen Mutterkomplex lehnt man die eigene Mutter und alles Mütterliche ab.

Don Juan wird seine Mutter nie finden

Beide Formen können gute und schlechte Folgen haben. Wer im Erwachsenenalter seine Mutter zu sehr liebt, wird unfähig, Beziehungen mit gleichaltrigen Frauen einzugehen. Er bleibt ein Muttersöhnchen, wohnt vielleicht noch zu Hause und hat nicht selten sexuelle Probleme. Das geht oft einher mit einer allgemeinen Aggressionsschwäche, denn Aggression würde gebraucht, um sich abzulösen und entschlossen eine Partnerin zu umwerben.

Aber auch «Donjuanismus» kann eine Folge sein. Wie das literarische Vorbild jagt der Betroffene von Liebschaft zu Liebschaft, weil er unbewusst in jeder Frau seine Mutter sucht, die aber unerreichbar bleibt. Eine angemessene Liebe zur Mutter dagegen führt zu keiner Störung, sondern fördert eine allgemeine Liebesfähigkeit und Wertschätzung des Weiblichen.

Wer wie Ihr Mann ein eher problematisches Verhältnis zur Mutter hat oder sie gar hasst, hat dagegen oft Probleme mit allem Weiblichen und muss Frauen entwerten. Weil die ersten Beziehungserfahrungen schlecht waren, dominieren in allen Lebensbereichen negative Gefühle wie Pessimismus, Neid, Angst, Hass und Schuld. In einigen Fällen kann die Wut auf die Mutter allerdings helfen, sich abzulösen und frei für neue Bindungen zu werden.

Entscheidend ist die Frage, wie ein Mutterkomplex genau beschaffen ist. Je besser man seine Verstrickungen mit der Mutter erkennt, desto eher kann man sich davon befreien.

Buchtipp

Verena Kast: «Vater-Töchter, Mutter-Söhne. Wege zur eigenen Identität aus Vater- und Mutterkomplexen»; Verlag Kreuz