«Entspannung war schon immer der Königsweg zum Schlaf, auf der ganzen Welt, in allen Kulturen», sagt Jürgen Zulley. Der mittlerweile emeritierte und in Regensburg lebende deutsche Psychologe hat lange Zeit an Universitäten zu Themen rund um den Schlaf geforscht und gelehrt.

Doch Entspannen ist nicht so einfach, denn der Mensch kann nicht aufhören zu denken – auch dann nicht, wenn er eigentlich schlafen will. «Und Denken behindert das Einschlafen. Erst durch Entspannung kommt das Gedankenkarussell zum Stehen.»

Schlaflieder sind dabei seit jeher eine erfolgreiche Strategie zum Runterkommen. «Sie gibt es, seit es weinende Kleinkinder gibt, und sie sind ganz ohne neurologisches Wissen entstanden, sondern einfach durch Ausprobieren», sagt Albrecht Vorster, Leiter des Swiss Sleep House in Bern, eines Walk-in-Beratungsangebots des Inselspitals für Schlafprobleme. Wie Schlaflieder genau funktionieren, sei nicht wirklich geklärt.

Klar ist: «Alles, was wir erleben, beeinflusst unsere Hirnaktivität, also auch Musik.» Musik bewirkt, dass Nervenzellen in gewissen Rhythmen angeregt werden. Langsame und tiefe Klänge führen dazu, dass die Nervenzellen ihre elektrischen Signale eher langsam abfeuern. Auch im Schlaf werden die Gehirnwellen generell langsamer. So liesse sich eine Vorliebe für tiefe, langsame Musik beim Einschlafen herleiten. «Das ist jedoch reine Theorie.»

Das Herz gibt den Takt vor

Eine weitere Theorie in der Schlafwissenschaft besagt, dass sich Lieder mit etwa 60 bis 80 Beats per Minute (Schläge pro Minute) beim Einschlafen besser mit dem Herzrhythmus synchronisieren als schnellere Songs, da dieses Tempo in etwa der Geschwindigkeit entspricht, mit der unser Herz im Schlaf schlägt. Der wissenschaftliche Nachweis dafür fehlt auch hier.

Zumindest einen Hinweis für die Richtigkeit der These gibt aber die Auswertung einer US-amerikanischen Website, die beim Kauf von Matratzen berät: Mattress Advisor untersuchte 2018 rund 10'000 Playlists, die sich Nutzer der Musikstreaming-Plattform Spotify zum Thema Schlafen angelegt hatten. Zu den am häufigsten aufgeführten Schlaf- und Entspannungsliedern gehörten dabei ruhige Songs wie «Perfect» oder «Thinking Out Loud» von Ed Sheeran, «Let Her Go» von Passenger, «Changes» von Xxxtentacion, «When I Was Your Man» von Bruno Mars oder «When the Party’s Over» von Billie Eilish. Sie alle haben ein Tempo von 60 bis 80 Beats per Minute.

Nicht wenige Studien zeigen, dass Musik auch Erwachsene in den Schlaf wiegt. 2003 etwa liessen US-Forscher der Universität von Nevada ältere Frauen, die unter Einschlafproblemen litten, zehn Tage lang ein selbst ausgewähltes Musikalbum zum Einschlafen anhören. Prompt halbierte sich deren Einschlafzeit. 2005 lauschten in Taiwan ältere Studienprobanden mit Vorerkrankungen, die das Einschlafen erschweren, 45 Minuten vor dem Schlafengehen beruhigender Musik. Schon nach der ersten Nacht hatten sie im Vergleich zur Kontrollgruppe, die ohne Musik einschlafen musste, einen besseren und längeren Schlaf als vorher.

«Nur Vertrautes beruhigt. Alles Neue – ob positiv oder negativ – wirkt zunächst wie ein Alarmsignal.»

Jürgen Zulley, Psychologe

Wichtig ist allerdings, dass der Inhalt des Schlaflieds bereits bekannt und damit vorhersehbar ist. «Kinder hören sich am liebsten immer wieder die gleichen Schlaflieder und Gutenachtgeschichten an, das beruhigt sie», sagt Jürgen Zulley. Auch Erwachsene setzen ihre Schlaf-Playlist aus Liedern zusammen, die sie kennen und bei denen sie sich entspannen können. Ein neues Album, in das man sich einhören muss, taugt daher nicht zum Einschlafen. «Nur Vertrautes beruhigt. Alles Neue – ob positiv oder negativ – wirkt zunächst wie ein Alarmsignal.»

So ist es nicht verwunderlich, dass sich Schlaflieder überall auf der Welt ähnlich anhören. Sie besitzen immer die gleiche Anatomie: Rhythmus und Melodie sind einfacher und langsamer als bei anderen Musikformen und sorgen für eine ruhige und positive Stimmung. Auch wer sich mit einer fremden Kultur nicht auskennt, erkennt deren Schlaflieder auf Anhieb.

Musik ist kulturübergreifend

Das demonstrierte 2018 der Psychologe Samuel Mehr von der US-Universität Harvard mit einem einmaligen Experiment: Er suchte sich aus der Datenbank «Natural History of Song» Lieder aus, die weltweit in 86 kleinen indigenen Bevölkerungsgruppen in mehr als 75 Sprachen aufgenommen wurden. Darunter die Aka in Zentralafrika, die Blackfoot und Wayuu in Nord- und Südamerika, die Tschuktschen in Asien, die Kuna in der Karibik und die Samen in Nordskandinavien. Sie alle sind Ureinwohner, die in abgeschiedenen Gebieten leben.

Die insgesamt 118 Lieder spielte der Wissenschaftler anschliessend 750 erwachsenen Internetnutzern aus 60 Ländern vor, die keine Kenntnisse der jeweiligen Kultur, deren Sprache und Musik hatten. Dann mussten sie die Songs nur dem Klang nach als Schlaf- oder Tanzlied, Lied zur Heilung von Kranken und Liebeslied einordnen. Obwohl die Zuhörer jeweils nur einen 14 Sekunden langen, beliebigen Ausschnitt eines Lieds zu hören bekamen, zeigten ihre Zuordnungen eine hohe Treffsicherheit. Und Schlaflieder wurden dabei am meisten von allen vorgespielten Songs auch tatsächlich als solche erkannt.

Schlussstrich ziehen

Was allerdings auch kulturübergreifend gilt: Damit ein Schlaflied funktioniert, braucht es eine gewisse Vorbereitung. «Es hilft, wenn man als Routine oder Ritual einen klaren Schlussstrich zwischen dem Tag und der Phase des Zur-Ruhe-Kommens zieht – zum Beispiel um 20 oder 21 Uhr – und danach keine Themen mehr anspricht, die stressig sind», rät Jürgen Zulley. Dazu gehören auch: kein TV-Krimi, keine E-Mails oder Anrufe sowie kein Essen. Am besten verordnet man sich diese unaufgeregte Zeit schon eine Stunde vor dem geplanten Einschlafen, denn der Körper stellt sich nur langsam auf Schlaf ein.

Durch die Konzentration auf die Musik wird dann nicht nur das Gedankenkarussell gestoppt. Während der einsetzenden Entspannung wird die Produktion des Stresshormons Cortisol herunter- und diejenige des Glückshormons Dopamin hinaufgefahren. So hilft Musik, den Blutdruck zu senken, den Puls zu entschleunigen und die Atmung zu verlangsamen. Und wir können zur Ruhe kommen.

Am Kissen lauschen
  • Musik on: Eigene Playlist mit einschläfernden Songs bei einem Musikstreamingdienst erstellen oder die von anderen Nutzern ausprobieren.
  • Musik off: Die Apps von Spotify oder Deezer zum Beispiel haben ihren eigenen «Sleep Timer», damit die Musik nicht die halbe Nacht hindurchplärrt. Beim iPhone/iPad kann man die Wiedergabe auch über den eingebauten Wecker/Timer nach der voreingestellten Zeit stoppen. Auf Android-Smartphones braucht es dazu Apps wie Sleep Timer (Musik aus).
  • Niemanden aufwecken: Wer zu zweit in einem Zimmer schläft, hat die Möglichkeit, den Songs auf einem sogenannten Musikkissen mit eingebautem Kopfhörer zu lauschen. Alternativ gibt es bequeme Stirnbänder mit eingebauten Lautsprechern.

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