«Albert Einstein» zieht uns nach Biel. So heisst die Lokomotive aus Zürich. Es riecht nach Salatsauce, säuerlich, und eine Frau im Abteil neben mir sagt: «Das muss ich gar nicht kauen. Praktisch.» Sie löffelt ihr grünliches Mus, bis vor unseren Fenstern ein Atomkraftwerk auftaucht. Dann öffnet sie eine zweite Plastikdose. Wassermelone. Gewürfelt.

Mein Gegenüber spricht vor sich hin, zwei Knöpfe im Ohr. «Vielleicht steht eines Tages ein anderer Name auf deiner Identitätskarte? In zehn Jahren wissen wir mehr. Ich kann warten.» Erste Liebe und andere Sorgen. Er ist keine 16.

«Tütsch?» Der Mann im Bahnhof Biel/Bienne drückt mir ein Heftchen in die Hand. Mit Ratschlägen wie «Lernen Sie». Und «Schauen Sie». Scientology geht in Biel/Bienne zweisprachig auf Seelenfang. Ich merke: Ich bin im Bahnhof falsch abgebogen. Zum Robert-Walser-Platz. Zwei giftgrüne Container empfangen mich. Abrollmulden, wie ich sehe. Bestückt mit essbaren Pflanzen. «Biel blüht auf. Bienne fleurit.»

Abrollmulden mit essbaren Pflanzen in Biel
Quelle: René Ammann

Robert Walser war Schriftsteller. Geboren in Biel, gestorben in Herisau. Dazwischen wanderte er von Stuttgart in die Schweiz zurück, hörte Stimmen und schrieb «Der Gehülfe». Nun ist Walser ein leerer Platz. Verloren in der Stadt, die der Welt ihre Vergänglichkeit vorhält. Mit Werken von Omega, Rolex, Swatch. Bloss die Bieler Bahnhofsuhr, die ist von Hans Hilfiker. Einem Zürcher.

«S isch hinger em Büffee», sagt der Mann. Er setzt sich. «Luegsch?», sagt die Frau und steht auf. Er nickt und nimmt einen Schluck Rivella. Unser Nachbar im Café Studio liest Todesanzeigen und löst das Kreuzworträtsel. Im Kino Lido läuft «Jurassic World 3». Die Stadt tut so entspannt, als sei Zeit kein Thema.

Biel wird halbiert von der Schüss. Sie endet im Bielersee, heisst auch La Suze und führt gerade kaum Wasser. Ihr Bett ist irritierend tief und breit. Der Grund? Nach kräftigen Regengüssen schwillt der Bach derart an, dass er Surfer zum See hin mitreisst.

Ich mäandere durch die Nebenstrassen voller halb leerer Cafés. Werde überholt von Menschen, die mit vielen Stimmen in ihr Handy sprechen oder brüllen, als hülfe das. Im Stadtpark schieben Väter ihre Kinder beim Schaukeln an. Eine Rabenkrähe will nicht aufhören zu lärmen neben dem Coiffeur voller Perücken auf Geköpften. Die Bäume wachsen artig in ihrem Gehege aus Stein oder Stahl. Es gilt, der Natur Herr zu werden.

Goldene Astronauten-Statue im Omega-Museum in Biel
Quelle: René Ammann

Der Eintritt ins Omega-Museum ist gratis. «Dürfen wir fragen, woher Sie kommen?» – «Bien sûr. Aus Zürich.» – «Mit welchem Transportmittel?» – «Mit dem Zug. Und hierher zu Fuss. C’est chaud à Bienne.» Ich verstaue meinen Rucksack. Im zweiten Stock empfängt mich James Bond mit finsterem Blick. «No Time to Die.» Keine Zeit zum Sterben. Glamour, wohin das Auge wandert. Und das Swatch-Phone in grellen Farben. Tempi passati. Wer hat noch einen Festanschluss?

Das Wetter legt das Fleisch frei, vom Hals bis zum Hallux. Erstaunlich, wie viele Leute sich ihr Gewebe ritzen und spritzen lassen. Waden, Schenkel, Rücken und Arme voller Rosen, Adler, Stacheldraht und einem Hockeyclub. Es ist Zeit, zu gehen.

Weiter im Rüttelzug

Im Lötschbergtunnel schüttelt der Zug die Passagiere 15 Minuten lang. Der Kaffee schwappt fast über im Loch, das 4,3 Milliarden Franken gekostet hat. Eine Milliarde mehr als geplant. Die Ohren gehen zu.

Es ist heiss in Visp. In Biel gibt die Uhrenindustrie Menschen Arbeit, in Visp ist es die Lonza. Sie ist nach einem kleinen Fluss benannt, der in der Rhone aufgeht, und sie belegt in der Stadt ein ganzes Quartier. Sie hat so viele Leute eingestellt, dass Wohnungen knapp und teuer sind. Dass Kitas und Schulen ständig ausgebaut werden müssen.

Was die Lonza (ausser einem Covid-Impfstoff seit 2020) genau herstellt, wissen die wenigsten. Aber alle wissen, weshalb sie nach Visp fahren: wegen des Matterhorns. Umsteigen nach Zermatt. Oder nach Saas-Fee. Nur wenige bleiben in Visp. Der Zug nach Zermatt fährt auf Gleis 3, nach Saas-Fee fährt ein Bus.

Im Restaurant hört man kaum mehr Walliserdeutsch. Im Service eine Deutsche und eine Kroatin oder Serbin. An der Rezeption eine Russin oder Ukrainerin. Ein paar Männer, die Spanisch sprechen oder eine slawische Sprache. Und Touristen. Eine Gruppe Engländerinnen und «Üsserschwiizer» aus der Welt auf der anderen Seite des Lötschbergs. Und wahrhaftig zwei jüngere Einheimische.

Am Morgen steht eine Walliserin an der Hotelrezeption. «Sehen Sie sich den alten Teil von Fischp an. Der ist schön.» Also nichts wie hin.

Der alte Teil von «Fischp»
Quelle: René Ammann

Mächtige Mauern, enge Gassen, prächtige Häuser. Tafeln erinnern an die Savoyer und an Napoleon. Und an Erdbeben. Eines war so heftig, dass der Kirchturm umstürzte. Das war 1855.

In den Gartenlokalen kippen Gäste ihr erstes Bier, es ist noch nicht 10 Uhr. Viele tragen enge Radlerhosen. Ihren Waden sieht man den Krampf der Anstrengung an. Sie verpassen den Reiz der Altstadt von Visp. Dabei sind sie und die Geschichte des Orts samt seinem mysteriösen blauen Stein allein schon eine Reise wert.

Und: Es gäbe auch im Wallis ein Biel. Ein paar Dutzend Seelen leben noch dort. Und der Fluss Rottu halbiert den Boden von Biel VS. «Där Rottu» ist der Walliser Name für die Rhone.

Radio Rottu wurde soeben an seine Leitungsequipe verkauft, ebenso wie der «Walliser Bote». Dem früheren Besitzer gehört auch das «Bieler Tagblatt». Er ist Walliser. Mit der Zeit will er auch das Bieler Medium seiner Leitungsequipe übergeben.

Ein französischer Künstler schnitt Bilder aus den Todesanzeigen von Schweizer Lokalblättern wie dem Walliser «Nouvelliste» aus. Er vergrösserte sie oder klebte sie auf Archivschachteln. Christian Boltanski. Seine Arbeit heisst «Die toten Schweizer». Er stellte sie aus in Räumen, die aussehen wie Katakomben. «Die Schweizer haben keinen historischen Grund, zu sterben. Alle hatten ihre Wünsche und ihre Erinnerungen. Jeder von ihnen war jemand.»

Manchmal muss man nicht auf die Uhr schauen, um zu wissen: Es ist Zeit, zu gehen. Ich warte am Bahnhof Visp. Eine Familie aus Indien steigt aus. In zwei Stunden und einer Minute bin ich wieder in Zürich.

Familie steigt am Bahnhof Visp aus dem Zug aus
Quelle: René Ammann

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.
 

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