Paul Bollinger* schloss 2008 ein Handyabo bei Orange ab, der heutigen Salt. Er telefonierte für mehr als 3000 Franken, bezahlte aber keine Rechnung. Nun wird er von der Inkassofirma Intrum Justitia betrieben – bereits zum zweiten Mal für dieselbe Forderung. Allerdings zu Unrecht, der Vertrag mit Orange war nie gültig.

Denn Paul Bollinger, 64, ist im juristischen Sinn nicht handlungsfähig und hätte deshalb gar keinen Vertrag abschliessen dürfen. Der handicapierte IV-Rentner lebt in einem Heim im Berner Seeland und ist bevormundet, «verbeiständet», wie es heute heisst. Und aus einem nichtigen Vertrag können keine gültigen Forderungen abgeleitet werden.

Die Inkassofirma wusste Bescheid

Paul Häberli, Bollingers Beistand, bezeichnet die Betreibung als «Administrativ-Terror». «Obwohl die Sachlage klar ist, setzte Intrum Justitia mein Mündel sowie mich, seinen Betreuer im Heim, den zuständigen Sozialdienst, das Betreibungsamt, das Verwaltungsgericht, diverse Pfändungsbeamte und das gesamte Rechtssystem monatelang unter Druck.» Nichtige Forderungen einzutreiben sei zwar kaum strafbar, aber auch nicht rechtens, entgegnen Experten. Ein Graubereich.

Aus der Pfändungsurkunde von 2009 ist ersichtlich, dass Bollinger bevormundet ist. Warum hat ihn Intrum Justitia wegen derselben Forderung jetzt erneut betrieben? Die Inkassofirma sagt, dass auch diese nochmalige Betreibung rechtmässig und korrekt, aber wohl nicht sehr sinnvoll gewesen sei. Aus Sicht von Intrum war der Vertrag mit Orange gültig.

Die zweite Pfändung verlief ebenfalls ergebnislos. Der Pfändungsbeamte fand beim IV-Rentner keinerlei pfändbare Werte – wie schon bei der ersten Betreibung. Beistand Häberli ärgert sich über den unnötigen Aufwand.

 

«Intrum Justitia kümmert es überhaupt nicht, ob eine gültige Schuld besteht oder nicht.»

 

Sébastien Mercier, Schuldenberatung Schweiz

Wie der Vertrag mit Orange zustande gekommen war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Fakt ist: Der 64-Jährige hat für 3000 Franken telefoniert und nie dafür bezahlt. Bollinger selbst kann die genauen Umstände nicht erklären. Und Häberli war damals noch nicht sein Beistand. In Bollingers Umfeld heisst es, der IV-Rentner habe sich immer wieder überrissene Anschaffungen geleistet.

Bollingers Handyabo kam zustande, obwohl Salt die «Personalien von vertragsabschliessenden Kunden rigoros prüft», wie ein Sprecher sagte. «Solche ungültigen Verträge entstehen leider immer wieder.» Salt sei sich der Nichtigkeit des Vertrags mit Bollinger nicht bewusst gewesen, «andernfalls hätten wir die entsprechende Forderung keinesfalls weitergegeben» an Intrum Justitia. Für die Weitergabe entschuldigt sich Salt «in aller Form bei den betroffenen Personen».

Aggressives Vorgehen

Intrum Justitia ist bekannt für fragwürdige Praktiken. Inkassofirmen betreiben säumige Schuldner in der Regel auf eigene Rechnung und erhalten einen Anteil von den eingetriebenen Beträgen. «Intrum Justitia kümmert es überhaupt nicht, ob eine gültige Schuld besteht oder nicht», sagt Sébastien Mercier von der Schuldenberatung Schweiz. Die Firma treibe auch Forderungen, die auf haarsträubende Weise zustande gekommen waren, teilweise aggressiv ein – etwa bei Personen, die am Telefon manipuliert wurden und unwissentlich Verträge abschlossen.

Beistände sind gerade in ländlichen Gebieten oft ehrenamtliche Privatleute, meist juristische Laien. Viele sind beunruhigt, wenn ihr «Mündel» betrieben wird. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Thun rät in solchen Fällen dazu, Rechtsvorschlag zu erheben und niemals Zahlungen auszulösen. Auch Markus Engel, Vizepräsident der Kesb Bern, mahnt zu Gelassenheit: «Die Forderung ist illegal.» Die Beistände sollen den direkten Kontakt mit dem Gläubiger suchen, der meist kooperativer sei als die Inkassofirma. Wenn man schriftlich klargemacht habe, dass der Vertrag nichtig sei, zögen Firmen in der Regel ihre Forderung zurück.

Ein Risiko gibt es immer

Vorbeugend sollten Beistände das Vertragsrisiko immer wieder thematisieren und der verbeiständeten Person klarmachen, dass sie nur zusammen mit dem Beistand unterschreiben dürfe. Wenn das nichts nützt, rät die Kesb Thun, potenziellen Vertragspartnern wie Versandhäusern, Internetportalen oder Telekomanbietern präventiv schriftlich mitzuteilen, dass eine Person «vertragsunfähig» ist. Falls es trotzdem zu einem Vertragsabschluss kommt, solle man der Firma die Situation sofort erklären. Meist liessen sich Verträge auf diese Weise schmerzlos auflösen.

Vollends lasse sich das Problem aber nicht aus der Welt schaffen, sagt Engel. Manche Firmen würden offensiv Kunden anwerben, etwa mit Strassenverkäufen. «Solche Kontakte kann ein Beistand beim besten Willen nicht verhindern.»

Für Paul Bollinger ging die Geschichte gut aus. Nach der Intervention des Beobachters hat Intrum Justitia den Fall abgeschlossen – ohne weitere Forderungen.

*Name geändert

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Quelle: Franziska Frutiger