Von Genf aus gesehen, spricht die Deutschschweiz Deutsch, und die Schulkinder lernen Französisch. So sah bis vor kurzem zumindest meine idealisierte Vision unseres sprachlichen Zusammenlebens aus. Unsere Politikerinnen und Politiker betonen es ja immer wieder: Der nationale Zusammenhalt ist in Gefahr, wenn wir unsere Landessprachen nicht teilen. 

In Zürich oder Altdorf sieht es ein bisschen anders aus. Und es gibt mindestens zwei Probleme.

Zunächst eine Entwicklung, die vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen wäre: Die Mehrheit der Deutschschweizer Kantone verschmäht das Französische. Dem isolierten Beispiel von Appenzell folgte im September 2000 Zürich: Die Kinder lernen Englisch und nicht mehr Französisch als erste Fremdsprache. Die Schlussfolgerung: Für die nationale Kohäsion können wir wahrscheinlich Französisch langsam vergessen. Sie beruht nur noch auf dem Hochdeutschen. 

Aber da kommt das zweite Problem: Momentan hält überall der Dialekt Einzug. Der St. Galler Nationalrat Lukas Reimann, von Beruf Rechtsanwalt, hat sogar versucht, ihn als Debattensprache im Parlament einzuführen. Der SVP-Politiker freute sich, dass «Dialekt nicht nur bei der Jugend und in den sozialen Medien grossen Zuspruch findet, sondern eine eigentliche kulturelle Blüte erlebt». Seine Motion 22.4464 führte am 2. Mai 2023 im Nationalrat zum Glück zu einer grossen Lachnummer.

Der Ratspräsident leitet die Debatte auf Rätoromanisch. Reimann macht sich lächerlich, indem er versucht, auf die Wortmeldungen der Romands auf Französisch zu antworten. Die von Regazzi auf Italienisch gestellte Frage bleibt unbeantwortet.

Und schliesslich der Gipfel: Ein Walliser Nationalrat, der seinen Beitrag auf Wallisertiitsch vorträgt und den niemand im Saal versteht: «Fascht üsser Atu heintsch alli glosut…» Die perfekte Illustration, dass das Schweizerdeutsche eben nicht eine einzelne Sprache ist, sondern viele und sehr unterschiedliche Sprachen umfasst.

Das Dilemma mit dem Dialekt

Dieses Aufblühen des schweizerdeutschen Dialekts bereitet den Welschen und den Tessinern zunehmend Sorgen. Sie haben das Gefühl, Schriftdeutsch für die Katz gelernt zu haben. Auch die Integration der ausländischen Bevölkerung wird dadurch extrem mühsam: Müssen sie nun Hochdeutsch oder den lokalen Dialekt lernen? Oder, bitte schön, gleich beides? 

Und was sollen nun die Welschen tun? Dafür kämpfen, dass Hochdeutsch am Arbeitsplatz weiterhin praktiziert wird, zumindest wenn Lateiner anwesend sind? Oder die doch recht merkwürdige Waadtländer Variante übernehmen? Dieser eigentümliche Kanton, der jahrhundertelang von den bösen Berner Deutschschweizern kolonisiert worden war, hat nicht nur eine Deutschschweizerin in seine Regierung gewählt, sondern will nun auch Schweizerdeutsch in seinen Schulen lehren. 

Oder soll man Deutsch in den Westschweizer Schulen ganz einfach vergessen – und damit den nationalen Zusammenhalt noch ein bisschen mehr ramponieren? I don’t know.

Zur Person
Michel Huissoud