Wir leben im Überfluss. Oft sind wir uns gar nicht bewusst, dass Dinge, die für uns selbstverständlich sind, für andere purer Luxus sind. Wie zum Beispiel das Schamgefühl.

Ich bin langjähriger Besitzer eines Schamgefühls und benutze meines täglich. Das passiert bei mir ganz automatisch, denn ist das Schamgefühl erst mal installiert, läuft es permanent im Stand-by. Wie ein stiller Beobachter sitzt es in meinem Bewusstsein, macht Notizen und zählt Verfehlungen. Und wenn es genug hat, macht es auf sich aufmerksam mit einem dumpf-stechenden Gefühl im Hinterkopf. Dann schäme ich mich.

Wenn ich zum Beispiel wieder mal schneller rede als denke – oder einen lustigen Tweet absetze, ohne vorher die Gefühle von Betroffenen abzuwägen. Dann ist es in erster Linie mein Schamgefühl, das mein Ego zügelt und mich wieder auf den Boden des Anstands zurückholt.

Im Sorgenmachen und Mich-Schämen bin ich Champion. Doch nicht alle hatten das Glück, mit so viel Schamgefühl aufzuwachsen wie ich. Gerade für Leute, die sonst alles haben, ist Scham ein rares Gut. Es gibt Menschen, die haben nie gelernt, sich zu schämen. Die haben noch nicht mal Zweifel. Das muss man sich mal vorstellen – sie laufen durchs Leben, fahren Grossbanken an die Wand, streichen Boni ein, und alles ohne einen Funken Scham. Und wenn mal nicht alles nach ihrem Willen läuft, suchen sie das Problem nicht bei sich, sondern bei anderen.

Wenn solche Leute unter die Schamlosgrenze fallen, drohen sie sozial zu verarmen. Sie isolieren sich zunehmends und werden zu funktionierenden Psychopathen. Sie nennen sich Unternehmer, benutzen den Begriff aber nur als Lizenz zur Ausbeutung anderer. Ich schäme mich für solche Leute – auch weil sie es offensichtlich selber nicht können.

Doch so fantastisch ein gesundes Schamgefühl ist, so gefährlich kann die Scham sein, die uns von aussen vorgeschrieben wird. Wenn erwartet wird, dass wir uns für Dinge schämen, für die wir nichts können: unseren Körper, unsere Sexualität, unseren Musikgeschmack. Oder wenn persönliche Scham als Ersatz für gesellschaftlichen Wandel herhalten muss. Wenn mit Foodwaste und Flugscham die Schuld am Klimawandel auf einzelne Personen abgeschoben wird – statt auf Politik und Wirtschaft.

Wer mit Scham noch keine Erfahrungen gemacht hat, dem leihe ich meine gern aus. Ein paar Stunden ohne nörgelndes Schamgefühl stelle ich mir fantastisch vor. Solange ich es danach wieder unbeschadet zurückbekomme.

Meine Bewertung fürs Schamgefühl: ★★★★☆

Zur Person
Patrick «Karpi» Karpiczenko