Mein Quartier hat jetzt eine App. Mit Mieterinnenverzeichnis, Pinnwand und Kleininseraten. Alle können Vorschläge posten, kommentieren und Dinge liken. Schnell wurde mir klar: Das ist mehr als ein digitales Anschlagbrett, das ist ein neues soziales Netzwerk!

Und wie bei allen sozialen Netzwerken wurde ich sofort abhängig. Wenn ich morgens aufwache, fällt mein erster Blick nicht auf die Tochter, sondern auf die Quartier-App: Wer hat den Wäscheraum nicht aufgeräumt? Hat Erika ihr Zalando-Päckli gefunden? Und ist die hässliche Chaiselongue noch zu haben? Zum ersten Mal in meinem Leben interessiere ich mich für das Leben meiner Nachbarinnen und Nachbarn – und nötig dafür war nur eine App.

Ich verabschiede mich von der Anonymität der Grossstadt. Dank unserem lokalen sozialen Netzwerk wurden aus lustigen Namen an den Briefkästen echte Menschen. Menschen mit Fragen, Frustrationen und Bohrmaschinen zum Ausleihen. Alte Netzwerke wie Facebook oder Twitter verlieren im Vergleich an Reiz. In unserer Quartier-App ist jeder eine Micro-Celebrity oder ein Balkon-Influencer. Und da wir alle bereits horrende Mieten zahlen, besteht auch keine Gefahr, dass die Pinnwand von Werbung überflutet wird.

Eine sozialistische Kommune?

Jeder Post hat tatsächlichen Einfluss auf meine unmittelbare Realität. Ein Beispiel: Als ein Mieter die Treppe runterfiel, fragte er in der App nach Möglichkeiten, die Stufen rutschsicher zu machen. Andere Mieter (ich eingeschlossen) kommentierten, dass auch sie schon die Treppe runtergefallen waren. Schnell formierte sich eine Front gegen die Verwaltung, und kurz darauf waren an allen Treppen Handläufe montiert.

Ein Sieg für die Gemeinschaft. Wird dank der App aus einem losen Haufen Mieterinnen und Mieter schon bald eine sozialistische Kommune?

Nein. Denn wie bei allen sozialen Netzwerken ging es auch bei unserer Quartier-App nicht lange, bis die Dinge düster wurden. Ein Mieter wurde von einer Mieterin öffentlich dafür blossgestellt, dass er seinen Karton zu früh an den Strassenrand gestellt hatte. Der Post ging viral, und in den Kommentaren machten sich rassistische Sentiments breit. Das Quartier polarisierte sich. Plötzlich war man entweder Abfall-Bünzli oder Entsorgungs-Anarchist. Als Satiriker stellte ich mich dazwischen und machte Witze über beide Seiten. Mein Humor wurde nicht goutiert, und schon bald drohten die Bünzli mit Polizei.

Ich habe die App gelöscht und bin unterdessen wieder auf Twitter unterwegs – dort geht es weniger toxisch zu und her. Die Quartier-App mag die Krönung der Evolution sozialer Netzwerke sein – aber vielleicht sind wir als Gesellschaft einfach noch nicht bereit dafür.

Meine Bewertung für soziale Netzwerke: ★★☆☆☆

Zur Person
Patrick «Karpi» Karpiczenko