Jeder Schritt vor die Haustür war eine Höchstleistung. In der Freizeit spontan etwas zu unternehmen kam gar nicht mehr in Frage. Zu gross war das Chaos im Kopf. Die alleinstehende Barbara Seiler* litt unter den Folgen eines übermässig selbstkritischen Umgangs mit sich selber. Sie stellte jeden nächsten Schritt in Frage. «Es war ein innerer Dialog: Muss ich wirklich einkaufen gehen? Könnte ich das nicht morgen erledigen?» Hatte sie sich durchgerungen, ging die innere Fragerei weiter: «Fahre ich mit dem Bus? Oder doch mit dem Velo? Oder gehe ich zu Fuss?» Das Hin und Her ging weiter mit der Wahl des Ladens und später jedes einzelnen Produkts. «Diese ständige Fragerei in jeder Lebenslage führte zu einem lähmenden Teufelskreis: Beschäftigt mit inneren Diskussionen, liess ich vieles unerledigt, was wiederum zu heftiger Selbstkritik führte.»

Seiler fand mit 65 Jahren im Internet die Onlinetherapie «Selbstmitgefühl und Selbstwert» der Universität Bern. Eigentlich handelt es sich erst um eine Studie, die die Wirkung solcher Therapien erforscht. Seiler nahm daran teil, in der Hoffnung, den Teufelskreis zu durchbrechen.

Elemente aus der klassischen Therapie

Der Psychologe Thomas Berger von der Uni Bern erforscht Onlinetherapien seit über zehn Jahren. Die Angebote im Internet seien ähnlich aufgebaut wie konventionelle Psychotherapien: «In den meisten Fällen sind es Selbsthilfeprogramme. Aspekte, die die Therapeuten normalerweise ihren Patienten vermitteln, werden hier ins Programm gepackt.» Das heisst, die Patienten klicken sich durch die Kapitel, bewerten zum Beispiel ihre Gemütslage, erhalten Übungen und führen Tagebuch. Dabei therapiert keineswegs ein Computer. «Bei den meisten Onlinetherapien ist ein Therapeut im Hintergrund, der für Fragen zur Verfügung steht, den Patienten ein Feedback gibt und sie ermutigt weiterzumachen», so Berger. Diese Rückmeldungen seien sehr wichtig. Bei Programmen ohne Therapeuten falle es Patienten viel schwerer dranzubleiben.

Über 100 Studien haben die Wirksamkeit der Therapien etwa bei sozialen Ängsten, Panikstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Depression nachgewiesen. «Verschiedene Metaanalysen, also Zusammenfassungen verschiedener Einzelstudien, zeigen, dass Onlinetherapien im Schnitt Behandlungseffekte erreichen, die mit der Wirkung von konventionellen Psychotherapien vergleichbar sind», sagt Berger.

Weniger Rückfälle

Andreas Maercker, Psychologe an der Universität Zürich, konnte langfristig sogar leicht bessere Ergebnisse der Onlinetherapien nachweisen. Dabei wurden zwei Gruppen untersucht, eine mit klassischer Sprechzimmertherapie und eine mit einer Onlinetherapie. «Während und direkt nach der Therapie waren die Ergebnisse gleich. Sechs und 18 Monate danach zeigte die Onlinegruppe jedoch ganz leicht bessere Ergebnisse», so Maercker. Viele dieser Patienten würden auch später in die Notizen schauen. «Das bewirkt, dass die Therapie aufgefrischt wird.» Bei einer Sprechzimmertherapie gebe es in der Regel keine Aufzeichnungen.

Bei Depressionen kann dieser Auffrischungseffekt bewirken, dass sich die Rückfallgefahr verringert. Und das ist wichtig: Rückfälle sind bei Depressionen eines der Hauptprobleme. «Wir konnten mit einer Studie zeigen, dass Patienten, die über längere Zeit mit einem Onlineprogramm dranbleiben, schneller komplett symptomfrei sind und dadurch die Rückfallgefahr spürbar kleiner wird», sagt Thomas Berger von der Uni Bern. Personen mit einer akuten Suizidgefährdung dürfen an Onlinetherapien jedoch nicht teilnehmen. Im Fall einer Krise könnten die Therapeuten nicht schnell genug reagieren.

«Die Selbstzweifel und Gedankenspiralen sind deutlich zurückgegangen.»


Barbara Seiler*, Onlinetherapie-Patientin

Ein grosser Vorteil der Onlinetherapie ist, dass man damit mehr Leute erreichen kann. Thomas Berger sagt: «Wir wissen, dass sehr viele Menschen unter psychischen Problemen und Störungen leiden, sich aber nur die wenigsten Hilfe suchen.» Andere haben Hemmungen, kennen in ihrer Region kein entsprechendes Angebot oder finden keine Zeit für Sitzungen im Sprechzimmer.

Vieles kann Barbara Seiler bestätigen: «Ich hätte die Kraft nicht gefunden, zu einem Therapeuten zu gehen. Bei der Onlinetherapie konnte ich selber bestimmen, wann ich an meinen Problemen arbeiten wollte, das war extrem befreiend.»

Mittlerweile gibt es zahlreiche Apps und Programme von privaten Anbietern. Viele davon seien nicht empfehlenswert, sagt Thomas Berger: «Diverse Programme wurden gar nie auf ihre Wirkung untersucht, was heikel ist. Man nimmt ja auch kein Medikament, dessen Wirkung noch gar nicht erwiesen ist.»

In Zukunft dürfte es vermehrt vorkommen, dass Psychotherapeuten ihren Klienten Onlinetherapien verschreiben, zum Beispiel als Ergänzung zur Sprechzimmertherapie. Daher hat sich auch die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) mit dem Thema befasst. Geschäftsleiterin Sabine Schläppi sagt: «Die Qualitätskontrolle bei diesen Angeboten ist zentral. Daher haben wir für unsere Mitglieder verbindliche Standards definiert, etwa betreffend Berufsethik und Datenschutz.» Dies soll gewährleisten, dass nur anerkannte Programme eingesetzt werden.

Die Schweiz steht noch am Anfang

In der Schweiz und im ganzen deutschsprachigen Raum steht man bei der Einführung aber noch ganz am Anfang. In Australien, Schweden, Grossbritannien oder den Niederlanden sei der Einsatz von Onlinetherapien bereits selbstverständlich, so Thomas Berger. «Zum Beispiel in Stockholm im Karolinska-Institut kann man als Patient in der Psychiatrie inzwischen wählen, ob man eine Psychotherapie oder ein begleitetes Selbsthilfeprogramm nutzen möchte. Die Hälfte entscheidet sich für die Onlinetherapie.» Die Kosten dafür übernimmt in diesen Ländern die Krankenkasse oder der Staat.

In der Schweiz bezahlt die Grundversicherung nur das Programm KSM Somnet, eine Onlinetherapie bei Schlafstörungen. Die Krankenkasse übernimmt dann die Kosten, wenn ein Arzt massive Schlafprobleme diagnostiziert hat. Einzelne Kassen stellen ihren Zusatzversicherten diverse Therapieprogramme gratis zur Verfügung oder beteiligen sich an den Therapiekosten.

Die Experten Thomas Berger und Andreas Maercker sehen in der schleppenden Einführung kein Problem. Im Gegenteil: Es sei positiv, dass neue Behandlungsverfahren erst nach gründlicher Prüfung breit eingeführt würden.

Beide sind sich einig: Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Tausende Menschen wie Barbara Seiler von Onlinetherapien profitieren können. Bei ihr war es ein voller Erfolg: «Die massiven Selbstzweifel, Grübeleien und Gedankenspiralen sind deutlich zurückgegangen. Ich kann Dinge zügiger erledigen, gehe auch länger auf Veranstaltungen oder mache Tagesausflüge. Zudem komme ich nun mit Menschen besser zurecht.»


*Name geändert

Online-Therapien: So finden Sie die passende Hilfe

Wichtige Fragen zum Anfang

  • Wer ist der Anbieter? Stehen Psychologen dahinter – oder nur eine Entwicklerfirma?
  • Gibt es Studien, die diesem Programm eine Wirksamkeit attestieren?
  • Baut das Programm auf einer anerkannten psychotherapeutischen Methode auf?


Wissenschaftlich begleitete Angebote 

  • iCare Prevent heisst eine aktuell laufende Studie der Universitäten Bern, Zürich und Erlangen-Nürnberg zu einem Online-Selbsthilfeprogramm bei Ängsten und Niedergeschlagenheit: www.icareprevent.com
  • Onlinetherapie der Universität Zürich (bei Depressionen, Traumata und anhaltender Trauer): www.psychologie.uzh.ch
  • Online-Selbsthilfeangebot der Universität Bern für verschiedene psychische Probleme: www.online-therapy.ch
  • «Stress aktiv mindern» (Stream) nennt sich ein Onlineprogramm der Universitäten Basel und Bern zu psychischen Belastungen durch Krebsleiden: www.stress-aktiv-mindern.ch


Privater Anbieter 

Die Hamburger Firma Gaia bietet zwei Onlineprogramme an:

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Raphael Brunner, Redaktor
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