Das Problem ist bekannt: Sexualisierte Gewalt ist in der Schweiz weit verbreitet. Laut einer repräsentativen Studie von gfs.bern aus dem Jahr 2019 wurden mehr als die Hälfte aller Frauen schon einmal sexuell belästigt. Mindestens jede fünfte Frau hat einen sexuellen Übergriff erlebt, mehr als jede zehnte Frau wurde zum Geschlechtsverkehr genötigt. 

Angezeigt werden diese Taten allerdings in den wenigsten Fällen. Gründe hierfür gibt es viele. Hohe juristische Hürden, ungeschultes Polizeipersonal, Angst vor Retraumatisierung sind einige davon. Mit der laufenden Revision des Sexualstrafrechts nimmt sich die Politik nun einem Teil des Problems an. 

Vorstoss für Krisenzentren stösst auf grosse Zustimmung

Das allein reiche aber nicht, findet SP-Nationalrätin Tamara Funiciello. «Es braucht viele unterschiedliche Massnahmen, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen und Opfer besser zu unterstützen. Die Revision des Sexualstrafrechts ist nur ein Teil.»

In der Frühlingssession forderten Politikerinnen, dass flächendeckend Krisenzentren für Opfer von sexualisierter, häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt eingerichtet werden. Die insgesamt drei Motionen zu diesem Thema stiessen im Stände- wie auch im Nationalrat auf grosse Zustimmung, womit das Geschäft nun an den Bundesrat zur weiteren Bearbeitung weitergeleitet wird.

Nationalrätin Tamara Funiciello fordert Krisenzentren für Opfer von sexualisierter Gewalt
Quelle: Keystone

«Es ist wichtig, dass Betroffene unmittelbar nach einer Gewalttat opfer- und traumasensible Ersthilfe erhalten.»

SP-Nationalrätin Tamara Funiciello

Konkret soll er verbindliche Standards und Grundlagen schaffen, damit in jedem Kanton oder in jeder Region ein Krisenzentrum zur Verfügung steht. Opfer sollen dort umfassende medizinische und psychologische Erstbetreuung und Unterstützung durch Fachpersonal erhalten. Die Krisenzentren sollen mit Einverständnis die Kontaktdaten der Betroffenen direkt zur zuständigen Opferberatungsstelle weiterleiten dürfen, damit diese später proaktiv Kontakt aufnehmen können.

«Es ist wichtig, dass Betroffene unmittelbar nach einer Gewalttat opfer- und traumasensible Ersthilfe erhalten. Dazu gehören die Versorgung von Verletzungen, Traumahilfe und die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten», sagt Funiciello. Sie kennt Beispiele von Frauen, die nach einer Vergewaltigung stundenlang im Krankenhauskorridor warten mussten – am Leib noch jene Kleider, in denen ihnen zuvor Schreckliches angetan wurde. 

Spurensicherung ohne Druck zur Anzeigeerstattung

Ein weiteres Problem: In den meisten Kantonen sind eine Untersuchung der betroffenen Person durch die Rechtsmedizin und das Sicherstellen von Spuren an das Erstatten einer Anzeige gekoppelt. Doch die Erfahrung zeigt, dass Opfer nach einer Tat unter Schock stehen und nicht sofort entscheiden können, ob sie eine Anzeige machen wollen.

Trotzdem ist es wichtig, dass die Spuren einer Tat innerhalb von 72 Stunden durch die Rechtsmedizin dokumentiert werden, damit die Chancen auf eine Strafverfolgung intakt bleiben. Darum fordern die Politikerinnen in ihren Motionen, dass es künftig in solchen Krisenzentren möglich sein soll, sich von der Rechtsmedizin untersuchen zu lassen, ohne dass sich die Opfer für eine Anzeigeerstattung verpflichten. 

«Für die Opfer ist der Zugang zu spezifischen Angeboten massgeblich. Es entscheidet darüber, ob eine Person eine Anzeige deponiert, ob sie langfristige psychische Probleme entwickelt, ob sie Kraft hat, ins Leben zurückzufinden.» 

Natalia Widla, Journalistin und Autorin

Heute gibt es in vielen Teilen der Schweiz keine solchen spezialisierten Einrichtungen für Opfer von sexualisierter Gewalt. Regional gibt es bei der Betreuung von Betroffenen grosse Unterschiede. Die Journalistinnen Miriam Suter und Natalia Widla beschreiben den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Schweiz in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Hast du Nein gesagt?».

Was Widla bei ihrer Recherche zu Denken gab, war die Rolle des Föderalismus: «Es gibt Kantone mit versierten Opferhilfestrukturen, die spezifisch im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt geschult sind. Andere haben eine einzige Fachstelle, die sich gleichzeitig um Verdingkinder, Strassenverkehrsopfer oder Betroffene von häuslicher Gewalt kümmern.» Für die Opfer sei der Zugang zu spezifischen Angeboten massgeblich, so Widla. Es entscheide darüber, ob eine Person eine Anzeige deponiert, ob sie langfristige psychische Probleme entwickelt, ob sie Kraft hat, ins Leben zurückzufinden. 

Kleine Schritte auf einem langen Weg

In den Kantonen Bern und Waadt gibt es bereits seit vielen Jahren spezialisierte Krisenzentren. Laut SP-Nationalrätin Funiciello habe die Praxis gezeigt, dass in diesen Kantonen die Verurteilungen wegen sexualisierter Gewalt zugenommen haben. Und doch benötige es feinteiligere Massnahmen, damit die Verfolgung solcher Straftaten zunehmen und Opfer besser geschützt werden, sagt die Buchautorin Widla. «Eine Rolle spielt, wie diese Motionen nun konkret umgesetzt werden, wie das Personal in solchen Krisenzentren ausgebildet wird. Und darüber hinaus aber auch, wie die Strafverfolgungsbehörden mit Opfern sexualisierter Gewalt umgehen.»

Die grösste Baustelle sieht Widla bei der Polizeiausbildung, da brauche es eine Vereinheitlichung. «In einigen Polizeischulen gibt es zwar ein Modul zur häuslichen Gewalt, in dem sexualisierte Gewalt während zweier Stunden pro Jahr thematisiert wird. In anderen Schulen findet das Thema gar nicht statt.» 

Doch der Inhalt der Polizeiausbildung lässt sich nicht per Gesetz reglementieren. Genauso wenig die Ausbildung von Richterinnen und Richtern. Ausserdem liegen viele Kompetenzen bei den Kantonen, was Anpassungen zugunsten von Gewaltopfern schwierig macht. Widla begrüsst aber, dass der Bundesrat nun mit den Krisenzentren vorwärts machen will. «Jedes weitere Angebot ist bitter nötig, wenn man sieht, wie überfüllt die Frauenhäuser seit Monaten sind.»

Anlaufstellen für Opfer von sexualisierter Gewalt

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