Wenn in Deutschland, Frankreich oder Italien gewählt wird, dann sind Umwälzungen programmiert. Parteien stürzen in der Gunst der Wählerinnen und Wähler in die Bedeutungslosigkeit ab, andere erleben einen kometenhaften Aufstieg. 

Wird hingegen in der Schweiz gewählt, gilt es schon fast als politisches Erdbeben, wenn eine Partei ein paar wenige Prozentpunkte Wähleranteil verliert oder gewinnt. 2019 etwa gewannen die Grünen bei den Nationalratswahlen 6,1 Prozentpunkte – und flugs wurde der Urnengang zur Klimawahl erklärt. Die SVP, die 3,8 Prozentpunkte einbüsste, galt als grosse Verliererin, obwohl sie immer noch die bei weitem stärkste Partei ist. Anders gesagt: Erdbeben sind im schweizerischen Politsystem nicht vorgesehen. 

Vor Wahlen in der Schweiz geht es deshalb für die Parteien hauptsächlich darum, die bestehenden Wählerinnen und Wähler bei Laune zu halten. Zudem schadet es nicht, sich ein paar Monate vor den Wahlen bei potenziellen Geldgeberinnen für die eigene Kampagne in Erinnerung zu rufen. 

Volksinitiativen und parlamentarische Vorstösse mit populären Anliegen wurden gezielt aufs Wahljahr hin eingereicht.

Wie das geht, hat die Frühjahrssession der eidgenössischen Räte gezeigt: mit gezielt auf das Wahljahr hin eingereichten parlamentarischen Vorstössen und Volksinitiativen mit populären Anliegen. Als Folge davon kam man sich in den drei Sessionswochen gelegentlich vor wie ein Zuschauer bei einem drittklassigen Schaulaufen.

Beispiele gab es zuhauf. FDP-Präsident Thierry Burkart etwa will das Verbot von sogenannten Unterhaltsstiftungen Geld für die Nachkommen FDP-Chef Burkart will Sonderlösung für reiche Familien kippen. Was unspektakulär klingt, würde einer kleinen, aber finanzkräftigen Minderheit Steuererleichterungen in Millionenhöhe bringen. Reiche Familien könnten damit ihr Vermögen in steuerbefreiten Stiftungen parkieren, deren Nutzniesser ihr Nachwuchs ist. So geht Klientelpolitik. 

Die Linke und die Rechte beherrschen das Spiel

Auch die SVP tat ihr Möglichstes, das eigene Publikum bei Laune zu halten. Dass die Forderung nach neuen AKW in der Energiedebatte chancenlos sein würde, stand dabei von vornherein fest. Dass die SVP sie trotzdem stellte, ist legitim – aber mehr Politzirkus als ein ernst gemeinter Beitrag zur Energiedebatte.

Selbstverständlich beherrscht auch die Ratslinke das Spiel mit den gut getimten Vorstössen. Via Motion forderte etwa der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga, dass die Zahlungsfrist für Heizkosten für Mieterinnen und Mieter verlängert wird. Sommaruga ist Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands – und hofft im Herbst selbstverständlich auch auf Stimmen aus dessen Reihen. 

Und dann waren da noch die Volksinitiativen – die Prämien-Entlastungs-Initiative der SP etwa oder die Kostenbremse-Initiative der Mitte: Beide so eingereicht, dass das Parlament pünktlich vor den Wahlen noch über Rezepte gegen hohe Krankenkassenprämien diskutieren kann. Dasselbe gilt für die Volksinitiative des Gewerkschaftsbunds für eine 13. AHV-Rente. Wichtiger als das Resultat dürfte auch hier sein, dass darüber – und vor allem über die Initianten! – geredet wird.

Ein Tipp für den 22. Oktober

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es wurde ernsthaft Politik gemacht in diesen drei Wochen, und es fielen wichtige Entscheide. Die Revision der beruflichen Vorsorge etwa oder der Energie-Mantelerlass werden die Schweiz auf Jahre hinaus prägen. 

Dass sich Politikerinnen und Politiker ein gutes halbes Jahr vor den Wahlen im besten Licht darstellen wollen, ist nicht weiter erstaunlich. Für Wählerinnen und Wähler kann das nur eines heissen: Wer am 22. Oktober die Wahlliste ausfüllt, sollte bei den Bisherigen auf den Leistungsausweis der vergangenen vier Jahre schauen und nicht darauf, mit welchen Vorstössen und Voten sie in den letzten Sessionen vor der Wahl zu brillieren versucht haben.