Frau Alt Bundesrätin, unser Dreisäulensystem wird 50 Jahre alt. Im internationalen Vergleich macht es sich doch recht gut. 
Ruth Dreifuss: Ich kenne Leute, die am Hungertuch nagen müssen, wenn sie alt werden. Deshalb kann ich nicht stolz sein auf unser Rentensystem. Und eigentlich spreche ich nur über die ersten zwei Säulen. Die dritte Säule ist für Bessergestellte. Es gelang uns aber, über viele Jahre im Grundsatz ein stabiles System der Altersvorsorge aufzubauen, das auf Ausbalancierung beruht. Einerseits in finanzieller Hinsicht, weil die AHV mit der Entwicklung der Lohnmasse Schritt hält und die berufliche Vorsorge über die Finanzmärkte gestärkt wird. Andererseits, um das soziale Ziel gemäss der Bundesverfassung zu erreichen, wonach die berufliche Vorsorge zusammen mit der AHV die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglicht. Doch die Finanzmärkte haben sich in der Vergangenheit nicht wie erwartet entwickelt. Dadurch wurde die zweite Säule geschwächt. Die AHV musste mehrmals mit Steuergeldern ins Gleichgewicht gebracht werden. Daher war es illusorisch zu glauben, die zwei Systeme würden für alle Zeiten auf beiden Seiten zu einer positiven Entwicklung führen. 


Rückblick: Was waren seit Verankerung des Dreisäulenprinzips am 3. Dezember 1972 die wichtigsten Etappen?
Schon Ende der 1960er Jahre wurde aktiv die Diskussion über die Bekämpfung der Altersarmut mittels eines Gesamtsystems für die Altersvorsorge geführt. Von linker Seite wurden drei Volksinitiativen eingereicht, sodass 1972 noch verschiedene Modelle auf dem Tisch lagen. Die Verankerung des Dreisäulenprinzips schien geeignet, dem Verfassungsauftrag gerecht zu werden. Doch es kam anders. Die gesetzliche Umsetzung zeigte grosse Lücken. 1995 kam es zur ersten BVG-Revision, für deren Vorschläge ich zuständig war. Da kam heraus, dass die Versicherungen, die BVG-Gelder zu verwalten hatten, einen Teil für andere Zwecke verwendet hatten - etwa für private Lebensversicherungen. Die Intransparenz und fehlende Überwachung der privaten Versicherungen wurden als Problem erkannt. 2012 war es endlich soweit, dass die Oberaufsichtskommission für die berufliche Vorsorge geschaffen wurde.


Sprechen wir über die AHV. Reicht die Vereinheitlichung des Rentenalters von Frau und Mann für eine tragfähige erste Säule?
Das Rentenalter von 65 Jahren bei Frau und Mann hilft der Finanzierung der AHV. Aber es garantiert nicht das Existenzniveau von älteren Menschen. Ein Grundsatz, der auch in der Bundesverfassung steht. Davon sind wir noch weit entfernt, trotz Ergänzungsleistungen. Deshalb wäre es bei der anstehenden Revision der zweiten Säule wichtig, die Fortsetzung der gewohnten Lebensweise als Ziel zu erreichen. Aber es muss auch sichergestellt werden, dass die Renten nicht mit Guthaben von jüngeren Generationen bezahlt werden.

«Die AHV musste mehrmals mit Steuergeldern ins Gleichgewicht gebracht werden.»

Es gibt Stimmen, die einen Umwandlungssatz von 5,5 Prozent fordern. Wie stehen Sie dazu?
Heute ist die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent wegen der höheren Lebenserwartung notwendig. Wir sollten aber mit diesem Satz behutsam umgehen, weil er auch vom Finanzmarkt abhängt und wir nicht wissen, wie er sich in der Zukunft entwickeln wird. Mit einer Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent schützen wir die tieferen Renten. Bei höheren Renten gilt die Mischformel aus dem Satz des obligatorischen und des überobligatorischen Teils der beruflichen Vorsorge. Von drastischen Schritten, wie einer Senkung auf 5,5 Prozent, rate ich klar ab.


Die Schwemme des Billiggeldes ist vorüber. Wie steht es da um das Argument von niedrigen Renditen bei Pensionskassen?
Das ist genau der Punkt. Ich wiederhole es gerne nochmal: Man muss hier nur so viel machen, wie gerade notwendig ist. 


Wären Sie heute noch Sozialministerin, wie würden Sie Geringverdienende besser stellen?
Die Situation von Geringverdienenden ist im Alter tatsächlich prekär. Ihr Gehalt reicht nicht, um in eine Pensionskasse aufgenommen zu werden. Wenn sie mehrere Arbeitgeber haben, fallen sie oft aus der Altersvorsorge. Dadurch wird es ihnen verunmöglicht, Kapital fürs Alter aufzubauen. Meine Haltung ist deshalb klar: Die Eintrittsschwelle in die Pensionskassen sowie der versicherte Mindestlohn müssen gesenkt werden. Auch der Koordinationsabzug und die Löhne aus allen Anstellungen müssen berücksichtigt werden.

«Heute ist die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent wegen der höheren Lebenserwartung notwendig.»

Immerhin: Dank der Vereinheitlichung des Rentenalters und der Flexibilisierung des Renteneintritts ist die AHV-Finanzierung bis Ende 2030 gesichert.
Einverstanden. Aber es ist auch nicht mehr als ein Reförmchen. Für einen Meilenstein braucht es mehr. In der AHV-Reform von 1997 ist es gelungen, Verbesserungen für viele und auf Dauer einzuführen. Damals führte die Veränderung der Rentenskala zu höheren Renten für die Mittelschicht und die Erziehungsgutschrift kam den Familien mit niedrigen Einkommen zugute. Die jetzige AHV-Revision muss dagegen als Notfallübung betrachtet werden. Sie bringt ja nur vorübergehende und ungenügende Kompensationen für die betroffenen Frauen.


Nun steht die BVG-Reform im Zentrum: Wie lautet Ihre Botschaft?
Wenn wir den Verfassungsgrundsatz durch die berufliche Vorsorge realisieren wollen, können wir nicht nur aufs Altersguthaben der Menschen setzen, welches sie selber ansparen. Er kann nur erreicht werden, wenn ein Teil der ungenügenden Altersguthaben durch ein Umlageverfahren, wie bei der AHV, aufgestockt wird. Ein Schritt in diese Richtung war am Verhandlungstisch zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften erarbeitet worden und sollte vom Parlament ernst genommen werden.

Dieses Interview stammt von handelszeitung.ch

Der Beobachter-Newsletter – wissen, was wichtig ist.

Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.

Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.

Jetzt gratis abonnieren