Der 28. Mai 2023 wird ein historischer Tag für die 106’000 wahlberechtigten Türkinnen und Türken in der Schweiz. Zum ersten Mal kommt es zu einer Stichwahl um das Amt des Präsidenten.

Wenn es nach den türkischen Wahlberechtigten in der Schweiz ginge, hätte der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan im ersten Wahlgang vom 14. Mai verloren. Der Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu holte hierzulande 57,6 Prozent, Erdogan nur 40,3 Prozent der Stimmen. Die Auszählung aller Wahlzettel aus dem Aus- und Inland zeigte dann allerdings ein anderes Bild: Erdogan holte 49,5 Prozent und verpasste das absolute Mehr nur knapp. Kiliçdaroglu lag mit fast 45 Prozent auf Platz zwei.

Am Sonntag sind in der Türkei erneut 61 Millionen Wählerinnen und Wähler zur Wahl gerufen. 3,4 Millionen Stimmberechtigte leben im Ausland.

Der jurassische SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez hat den ersten Wahlgang vor Ort beobachtet. Er ist Teil einer Delegation des Europarats in Strassburg. Nach dem ersten Wahlgang gab es Kritik an der ungleichen Chancenverteilung der Kandidierenden. Ausserdem seien Wahlbeobachter an ihrer Arbeit gehindert worden. 

Herr Fridez, Sie waren als Wahlbeobachter in Ankara und wurden dort aus einem Wahllokal verwiesen. Was ist da passiert?
Wir waren zu dritt. Eine französische Parlamentarierin, eine Übersetzerin und ich. Als akkreditierte Wahlbeobachter des Europarats haben wir eigentlich Zutritt zu allen Wahllokalen. Doch bei diesem wurden wir kurzerhand hinausgeworfen. So etwas habe ich in 21 Jahren als Wahlbeobachter noch nie erlebt. 

Was war der Grund?
Man beschimpfte uns und sagte, unsere Anwesenheit sei gegen das Gesetz. Die Stimmung war aufgeheizt, aber nicht handgreiflich. Wir haben das Gebäude dann verlassen. In den anderen Wahllokalen ist uns so etwas dann nicht mehr passiert. 

Sie sind SP-Nationalrat des Kantons Jura. Wie kommen Sie als Wahlbeobachter in die Türkei?
Die Schweiz hat eine Parlamentarierdelegation von zwölf Personen beim Europarat in Strassburg. Vier Ständeräte, acht Nationalräte, einer davon bin ich. Die Parteien des Europarats entsenden paritätisch nach ihrer Grösse insgesamt 40 Mitglieder in Länder, wo Wahlen unter besonderer Beobachtung stehen. Das sind Länder wie Bulgarien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien oder eben die Türkei. Wer sich für ein Mandat als Beobachterin interessiert, kann sich bei seiner Fraktion melden. Am Ende entscheidet die Partei. 

Was ist Ihre Aufgabe als Wahlbeobachter?
Zu beurteilen, ob die Wahlprozesse durch Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und eine gewisse Konkurrenz im Sinne eines politischen Pluralismus gekennzeichnet sind. Wir beobachten, ob Transparenz herrscht und inwieweit die Grundfreiheiten geachtet werden.

Wie machen Sie das? Es wird mehr brauchen als einen Kurzbesuch in einem Wahllokal. 
Im besten Fall ist man bereits mit dem Land vertraut. Deshalb reisen Beobachter oft wiederholt in dieselben Länder. Wenn wir Delegierten des Europarats das Land einige Tage vor der Wahl erreichen, erhalten wir einen Lagebericht über die Geschichte und die aktuelle Situation. Ausserdem sind Langzeitbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Land. Sie befinden sich seit sechs Monaten in der Türkei. Die Wahlbeobachtung stützt sich also nicht nur auf uns, sondern auch auf Nichtregierungsorganisationen, Medien und Vertreter der Parteien. 

«Erdogan-kritische Medien wurden an ihrer Arbeit gehindert.»

Pierre-Alain Fridez

Was machen Sie am Wahltag?
Die Europarat-Delegation ist in kleinen Teams unterwegs, bestehend aus je zwei Mitgliedern des Parlaments, einer Übersetzerin und einem Fahrer. Wir sind präsent im ganzen Land und besuchen zehn bis zwölf Wahllokale. Wir sprechen mit den Leuten vor Ort, machen Notizen und beobachten auch das Öffnen der Wahlboxen und das Auszählen der Stimmzettel. 

Wie haben Sie den ersten Wahlgang in der Türkei erlebt?
Der Rauswurf in diesem einen Lokal in Ankara war eine Ausnahme. Sonst war die Lage trotz hoher Polizeipräsenz ruhig. Doch die Stimmung war angespannt. Es wollten sehr viele Leute zur Wahl. Die Abstimmungslokale waren voll. Insbesondere bei Vertretern von Erdogans Regierungspartei AKP war die Stimmung nervös. Unterwegs fiel uns auf, dass die Zutrittsbedingungen für Menschen mit Beeinträchtigung nicht überall erfüllt waren. Und die Voraussetzungen für einen fairen Ausgang waren im Vorfeld der Wahl schlecht. Erdogan-kritische Medien wurden an ihrer Arbeit gehindert. Den Wahltag selbst habe ich dann als weitgehend korrekt erlebt. 

Was geschieht nun mit diesen Beobachtungen?
Wir erstellen Berichte zuhanden des Delegationsleiters und zuhanden der Vertreter des türkischen Staats. Der Delegationsleiter wird im Juni dem Europarat berichten. Auch türkische Vertreter werden dort sprechen. Es geht darum, Erfahrungen abzugleichen und Verbesserungen zu diskutieren. 

Ist denn die Türkei überhaupt an diesem Bericht interessiert?
Ja, denn sie hat das europäische Menschenrechtsabkommen unterzeichnet. Das ist an bestimmte Bedingungen geknüpft, darunter freie Wahlen. Als Wahlbeobachter sind wir ausserdem keine Eindringlinge, sondern wir werden von den Ländern eingeladen. Wir erhalten eine ordentliche Akkreditierung vom türkischen Staat. Man will, dass wir da sind. 

Wollen alle Länder, dass ihre Wahlen von Aussenstehenden beobachtet werden? 
Die meisten ja, denn an den Grundsatz funktionierender Wahlen ist eine ganze Reihe politischer Versprechen geknüpft. Moldawien zum Beispiel will schon lange der EU beitreten. Eine der Voraussetzungen ist eine stabile Demokratie. Darum setzt Moldawien alles daran, transparente Wahlen abzuhalten. Deshalb ist es wichtig, dass seriöse Organisationen wie der Europarat oder die OSZE die Beobachtungen organisieren, deren Mitglieder ein breites politisches Spektrum abbilden.

Wer übernimmt die Reisekosten Ihrer Beobachter-Mission in der Türkei?
Das bezahlt die Parlamentarierdelegation des Europarats, also schlussendlich die Schweiz. 

Täuscht es, oder sind es vor allem Politikerinnen und Politiker aus dem linken Spektrum, die sich an solchen Wahlbeobachtungen im Ausland beteiligen?
Das täuscht. Unsere Delegation in Strassburg ist politisch divers. Und wer an den Beobachtungen teilnimmt, hat auch mit der verfügbaren Zeit der Personen zu tun. Ich war zum Beispiel nicht bei den Wahlen in Bulgarien, im Unterschied zu Jean-Pierre Grin oder Alfred Heer von der SVP oder Damien Cottier von der FDP. 

Am Sonntag kommt es in der Türkei zur Stichwahl. Was ist Ihre Prognose für den Ausgang?
Ich denke, Recep Tayyip Erdogan wird die Wahl gewinnen.