Beobachter: Auf Medienartikel und Posts in den Sozialen Medien gibt es teils hunderte Kommentare. Wer schreibt diese?
Dominique Wirz: Wer die Leute genau sind, darüber weiss man noch wenig. Sie vertreten eher extreme Meinungen und Studien weisen daraufhin, dass sie eher männlich sind. Klar ist: Es schreiben eigentlich nur verhältnismässig wenige Personen Online-Kommentare. Lediglich 18 Prozent der Nutzer kommentieren überhaupt etwas. Das ist eine sehr kleine Gruppe, die ein Meinungssignal aussendet und damit die Wahrnehmung der öffentlichen Meinung stark beeinflusst. Der Grossteil der Leserinnen und Leser schliesst fälschlicherweise daraus, dass es sich um eine Mehrheitsmeinung handelt. 


Wieso tun sie das?
Es ist aus der Forschung erwiesen, dass die Leute aus den Kommentaren Rückschlüsse aufs Thema der Artikel und auf die Medienberichterstattung ziehen. Zum Beispiel, dass die Berichterstattung verzerrt ist, auch wenn der Beitrag eigentlich ausgewogen wäre. Kommentare und Reaktionen wie Likes oder zornige Emojis sind am einfachsten fassbar, man sieht sie sofort, ohne den Artikel überhaupt lesen zu müssen. Die Menschen nehmen diese Informationen dann als Indikator für die Bevölkerungsmeinung. 


Wenn die Leserinnen und Leser solche Kommentare als Mehrheitsmeinung einordnen, wird damit auch deren eigene Meinung beeinflusst?
Ja. Gehässige Kommentare und zahlreiche Reaktionen wirken sich direkt auf die Wahrnehmung des Themas aus. Deshalb ist es naheliegend, dass Kommentare einen grossen Einfluss auf diejenigen Menschen haben, die sie lesen. 


Und damit auch auf die Politik? Auf Abstimmungen und Wahlen Fakten zum Parlament Wie gut das Volk im Bundeshaus wirklich vertreten ist ?
Durchaus. Die verzerrte Sicht auf die Mehrheitsmeinung kann entscheidend sein für die politischen Entscheide der Leute. Man will sich mit einer vermeintlich unpopulären Meinung nicht exponieren und nicht auf der Verliererseite stehen, weil das gesellschaftlich nicht akzeptiert ist. 


Was bewirken denn die Online-Kommentare konkret? 
Für die allermeisten sind Medien der beste Indikator, um sich über die vorherrschende Meinung in der Bevölkerung zu informieren. Zum Beispiel darüber ob ein Thema umstritten ist, oder ob ein bestimmtes Argument besonders wichtig ist. Kommentare und Reaktionen beeinflussen diese Wahrnehmung. Teilweise werden Kommentare ja sogar von Journalisten als Anlass für einen neuen Artikel genommen – eine zusätzliche Verstärkung des Effekts. Wenn man dann das Gefühl hat, mit der eigenen Meinung in der Minderheit zu sein, beginnt man sie zurückzuhalten, weil man Angst hat, sich damit zu isolieren. Es ist aber verheerend, wenn die Mehrheit schweigt. Weil diese Meinung dann immer weniger präsent ist und die eigentliche Minderheits- aber vermeintliche Mehrheitsmeinung immer mehr Platz einnimmt. Das kann zur sogenannten Schweigespirale und einer tatsächlichen Verschiebung der politischen Haltung in der Bevölkerung führen.


Aber wenn ich eine klare Meinung habe, lasse ich mich doch nicht von ein paar negativen Kommentaren beeinflussen. 
Nein, das betrifft nicht diejenigen, die eine starke und gefestigte politische Einstellung haben, sondern die Leute, die eher unsicher sind. Die Unentschiedenen sind bei Wahlen und Abstimmungen aber oft das Zünglein an der Waage. Ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung wird dann ausschlaggebend. Diese Personen sind daher für die Politik und für uns Forscher besonders spannend, denn sie sind diejenigen, die sich eher von der Medienberichterstattung oder eben auch von Kommentaren beeinflussen lassen. 


Parteien und Organisationen orchestrieren teilweise Gegenkampagnen in den Online-Foren. Bringt das etwas?
Es gibt eine Studie, die die vornehmlich in Deutschland aktive «#ichbinhier»-Bewegung untersucht hat. Diese Gruppe will unzivilisierten Kommentaren etwas entgegenhalten. Sie ruft ihre Mitglieder immer wieder dazu auf mitzudiskutieren. Sie holen damit quasi zu einem kollektiven Gegenschlag aus und versuchen, mit sachlichen Kommentaren gegen Hass und Desinformation Hass im Internet Im Auge des Shitstorms im Netz anzukämpfen. Wenn es eine kritische Masse an Teilnehmenden bei einer solchen Aktion hat, ist das motivierend für die Einzelnen. Man ist nicht isoliert, sondern Teil einer grösseren Gruppe, und kann als solche etwas bewirken: Wenn ein Kommentar viele Likes aus der Gruppe bekommt, erlangt dieser mehr Sichtbarkeit als die Hasskommentare.


Kann eine zivilisiertere Kultur in den Online-Kommentaren dazu führen, dass sich mehr Menschen an den Diskussionen beteiligen und dadurch die sehr aktive Minderheit nicht mehr so politisch dominant wird?
Nicht unbedingt. Man hat lange angenommen, dass die unzivilisierte Meinungsäusserung schädlich ist für die Diskussionskultur in Online-Foren und sich deshalb nur so wenige daran beteiligen. Aber neue Studien zeigen, dass faktenorientierte Debatten nicht dazu führen, dass sich mehr Leute äussern. Menschen machen eher mit, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten etwas beitragen. Wenn aber bereits ausführliche Beiträge dastehen, gibt es dem nicht mehr viel hinzuzufügen. Man weiss, dass hauptsächlich Dinge geteilt oder kommentiert werden, wenn man das Gefühl hat, es müsse korrigierend interveniert werden. Ärger führt am häufigsten zu dieser Reaktion. Deshalb erhalten polarisierende Kommentare beispielsweise auf Facebook Wahlkampf auf Social Media Wie wird Facebook die Wahlen in der Schweiz beeinflussen? immer Topplatzierungen und beste Sichtbarkeit. Ganz einfach, weil viele Leute darauf reagieren – positiv und negativ. 


Wie beurteilen Sie den Umgang der Medienhäuser mit Kommentaren?
Bisher zeigt sich, dass niemand ein Patentrezept dafür hat. Einige moderieren mit, andere löschen heikle Kommentare oder schliessen die Kommentarfunktion ganz. Klar ist: Für die Zuschauer reicht ein einzelner aggressiver Kommentar, um die Medienberichterstattung als verzerrt oder feindlich wahrzunehmen oder um eine Mehrheitsmeinung zu beeinflussen. 


Die Digitalisierung ist weiter vorangeschritten. Ist es bei den diesjährigen Wahlen wichtiger als 2015, was in Kommentaren passiert?
Das lässt sich nicht eindeutig sagen. Die Situation hat sich insofern verändert, als Politiker bei diesen Wahlen im Netz viel präsenter sind als noch vor vier Jahren. Und zwar nicht nur auf Twitter und Facebook, sondern zunehmend auch auf Instagram. Das ist kein Zufall: Instagram hat sich auch zur primären Nachrichtenquelle bei der Gruppe der 18- bis 24-jährigen entwickelt. Knapp 23 Prozent dieser Gruppe geben an, Instagram vor Facebook und Youtube Youtube Was gucken Jugendliche da ständig? (22 Prozent), für Nachrichten zu nutzen. Das sind zwar Zahlen für Deutschland, die lassen sich aber vermutlich einigermassen gut auf die Schweiz übertragen. Diese Entwicklung ist insofern problematisch, als sich die Jugendlichen darauf verlassen, dass sie auf den Sozialen Medien schon die wichtigsten Inhalte und News erhalten – und daher vor allem polarisierenden Inhalten ausgesetzt sind, weil diese, wie erwähnt, die beste Sichtbarkeit erhalten. Gut möglich, dass sich die Mediennutzung dieser Altersgruppe noch verändert, wie das auch bei anderen Generationen der Fall war. Man muss also keine düsteren Zukunftsaussichten malen. Trotzdem sollte man diese Entwicklung ernst nehmen. Plattformen wie Instagram und Snapchat werden relevanter für die Medien und die Politik.

Zur Person

Dominique Wirz

Die Kommunikationswissenschafterin Dominique Wirz forscht an der Universität Fribourg zu Mediennutzung und zur Wirkung populistischer Kommunikation auf politische Einstellungen.

Quelle: John Flury / Universität Zürich
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