Beobachter: Wir fürchten uns viel zu oft, sagen Sie. Gilt das auch noch in Zeiten, in denen Terroranschläge mitten in Europa stattfinden?
Walter Krämer: Wir fürchten uns vor allem vor dem Falschen. Es gibt heute viele Gründe, sich Sorgen zu machen. Der Terror ist das eine, aber in der Schweiz kommen jedes Jahr 200 bis 300 Menschen im Strassenverkehr ums Leben, und sogar mehr als 300 Schweizer sterben jährlich durch Haushaltsunfälle. Meine eigene grösste Sorge ist, ins Krankenhaus zu kommen und dort Keime aufzulesen. In Deutschland sterben daran schätzungsweise 25'000 Personen jedes Jahr, und auch in der Schweiz sind es wohl mehr als 1000.

Beobachter: Weshalb muss man sich nicht vor Terroranschlägen fürchten?
Krämer: Beim bisher schlimmsten Anschlag in Europa im November 2015 starben in Paris rund 150 Menschen. Das ist tragisch. Aber allein an einem verlängerten Osterwochenende kommen in Frankreich fast genauso viele Menschen bei Autounfällen ums Leben. Das eigentlich Gefährliche am Terror sind die gesellschaftlichen Folgen, weil er die individuelle Freiheit beschränkt und weil der soziale Zusammenhalt in Gefahr ist, wenn man andere Menschen des Terrorismus verdächtigt. 

Beobachter: Sie persönlich fürchten sich nicht vor Terror?
Krämer: Nein, dass ich durch einen Terroranschlag umkomme, schliesse ich aus. Eher werde ich vom Blitz erschlagen.

Beobachter: Welche Rolle spielen die Medien beim Thema Angst?
Krämer: Leider eine ganz unglückselige – in Deutschland noch viel stärker als in der Schweiz –, weil sie oft Minigefahren herauspicken und aufblasen. Etwa beim Zusammenhang zwischen dem Wurstessen und Darmkrebs. Wenn von 100 Menschen fünf an Darmkrebs erkranken und bei täglichem Wurstgenuss sechs, ist das ein Prozentpunkt mehr. Wenn dann in der Zeitung steht, dass tägliches Wurstessen das Krebsrisiko um 20 Prozent steigere, klingt es viel dramatischer. 

«Wenn Sie hören, das Risiko sei um 100 Prozent gestiegen, sollten Sie aufhorchen.»

Walter Krämer

Beobachter: In einem Ihrer Bücher steht, dass Pharmaindustrie und Medien Zahlen teils falsch kommunizierten oder interpretierten. Wie kann der Konsument ein Risiko überhaupt noch richtig einschätzen?
Krämer: 
Etwa indem man nach absoluten Zahlen fragt, wie beim Beispiel Wurst. Wenn Sie hören, dass das Risiko um 100 Prozent gestiegen sei, sollten Sie aufhorchen. Wichtiger als das relative Risiko sind die absoluten Zahlen. Nehmen wir die Choleragefahr, die sich in Deutschland laut diversen Medienberichten verdoppelt hat. Aber vorher waren es jährlich zwei Personen von insgesamt 80 Millionen und dann vier. Also vorher nichts und nachher nichts. Seriöse Zeitungen erwähnen jeweils die absoluten Zahlen.

Beobachter: 
Sie argumentieren als Statistiker rational, aber Ängste sind irrational. Wie kann man Ängsten begegnen?
Krämer: 
Schlecht. Paradebeispiel ist die Flugangst. Man kann Menschen mit Flugangst immer wieder sagen, wie sicher ein Flugzeug ist, aber die Flugangst kann ich mit rationalen Argumenten nicht bekämpfen. Da hilft wohl nur eine Therapie oder vielleicht, 1000-mal zu fliegen, um sich abzuhärten.

So berechtigt sind unsere Ängste

Risiken in Westeuropa: eine Skala für die Wahrscheinlichkeit, dass gefürchtete Ereignisse eintreten. 
1 = Das Ereignis ist äusserst unwahrscheinlich.
10 = Das befürchtete Ereignis tritt todsicher ein. 

Wenn sich ein Wert um 1 erhöht, erhöht sich das Risiko um das Zehnfache. Risiken mit einem Wert über 6 sind in unserem Leben alltäglich.

* Rasmussen-Report 1975

Infografik: Beobachter/Anne Seeger, Quelle: Krämer/Mackenthun: «Die Panik-Macher» (2001)

Quelle: PD (Pressedienst)

Beobachter: Sie relativieren auch Gefahren wie Rückstände von giftigen oder krebserregenden Stoffen in Nahrung oder Trinkwasser. Könnte diese Haltung nicht dazu führen, dass man sich doch einer unnötigen Gefahr aussetzt?
Krämer: Unnötige Gefahren sollte man natürlich vermeiden. Die Frage ist jedoch, ob man minimale Pestizidrückstände in der Nahrung auf null zurückfahren muss. Viele negieren die Tatsache, dass die Dosis das Gift ausmacht. Das ist auch bei den pflanzlichen Giftstoffen so, die von Natur aus in ganz normalen Lebensmitteln wie zum Beispiel in Kartoffeln oder grünen Bohnen in grossen Mengen enthalten sind. Essen Sie einmal zwei Kilogramm rohe, ungeschälte Biokartoffeln: Dann sind Sie tot. Verantwortlich dafür ist das giftige Solanin, das besonders reichhaltig in den grünen Stellen enthalten ist.

Beobachter: Giftige Kartoffeln?
Krämer: Jedes Lebensmittel ist giftig, wenn man es in grossen Mengen konsumiert. Himbeeren etwa enthalten so viele natürliche Gifte, dass sie künstlich hergestellt nicht verkauft werden dürften. Man kann selbst an zu hohem Wasserkonsum sterben – solche Fälle sind bekannt. Diese natürlichen Risiken werden von den Medien aber ignoriert, weil sie nicht von Menschen gemacht sind. Die Medien brauchen Opfer, und sie brauchen Sündenböcke. Und die Natur eignet sich ganz schlecht als Sündenbock.

Beobachter: Welche Risiken, die uns Westeuropäer ängstigen, sind meistens überbewertet?
Krämer: 
Gift in Lebensmitteln und die Gefahr durch Strahlenbelastung. Meldungen dieser Art sollte man mit Vorsicht geniessen. Beim Reaktorunfall von Fukushima ist kein einziger Mensch an Strahlenbelastung gestorben, aber rund 20'000 Menschen sind durch den Tsunami und das Erdbeben umgekommen.

«Achten Sie im Urlaub besser auf herabfallende Kokosnüsse als auf Haie.»

Walter Krämer

Beobachter: Manche haben Angst vor einer Haiattacke in den Ferien am Meer.
Krämer: Beim Hai spielt der Aspekt des Unheimlichen eine Rolle. Die grausliche Vorstellung, dass ein Hai uns ein Bein abreissen könnte, löst Angst aus. Dabei ist das Risiko verschwindend klein. Pro Jahr werden weltweit weniger als 100 Menschen von Haien attackiert und weniger als zehn dabei getötet. Achten Sie im Urlaub besser auf herabfallende Kokosnüsse, dadurch sterben jedes Jahr weitaus mehr Touristen.

Beobachter: Woher kommt eigentlich unsere Angst?
Krämer: Die ist oft genetisch programmiert. Angst vor verdorbenem Essen haben wir von den Vorfahren geerbt, sie war vor einer Million Jahren tatsächlich überlebenswichtig. Gift im Essen ist unsichtbar, da war es besonders wichtig, vorsichtig zu sein. Wenn unsere Spezies noch eine Million Jahre weiterbesteht, werden wir uns eher vor ungesicherten Steckdosen fürchten.

Beobachter: Weshalb?
Krämer: Weil nur diejenigen Mitglieder der Spezies überleben, die es vermeiden, ihre Finger reinzustecken. Häusliche Unfälle mit elektrischem Strom sind sehr oft tödlich, aber Strom gab es im Urwald nicht, deshalb ist die Angst davor noch nicht in unseren Genen verdrahtet.

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Quelle: Geert Vanden Wijngaert/AP/Keystone

Beobachter: Welche Gefahren im Alltag werden sonst noch unterschätzt?
Krämer: Ganz gefährlich sind wie gesagt der Strassenverkehr, Krankenhäuser, Haushaltsunfälle sowie fettes Essen und Alkohol, einer der grössten Killer überhaupt. Auch Tötungsdelikte werden oft unter Alkoholeinfluss begangen. Davor sollten wir Angst haben.

Beobachter: Wie haben sich unsere Ängste in den letzten Jahrzehnten verändert? 
Krämer: Durch unser genetisches Programm haben wir im Wesentlichen vor den gleichen Dingen Angst wie unsere Affenvorfahren im Urwald. Deshalb fürchten wir uns nicht vor dem Strassenverkehr und vor der Elektrizität. Viele fürchten sich heute hingegen davor, an Krebs zu sterben. Wenn man ein Medikament gegen Krebs fände, nähme die Lebenserwartung um drei Jahre zu, aber andere Krankheiten wie Alzheimer oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen würden stark ansteigen. Vor der Angst zu sterben gibt es kein Entkommen, Sie werden todsicher an irgendetwas sterben.

Beobachter: Wovor fürchten wir uns in zehn Jahren?
Krämer: Ich vermute, dass die genetische Programmierung bleiben wird, etwa die Angst vor dem Gift im Essen. Die Furcht vor dem Terror wird zurückgehen, ich nehme an, wir werden Gruppierungen wie den «Islamischen Staat» in den Griff bekommen.

Warum werden einzelne Risiken überschätzt?

  1. Uralter Herdentrieb
    Vor einigen Millionen Jahren war der Zusammenhalt in der Gruppe zentral. Noch heute wirken Ängste ansteckend und können sich zu einer Massenpanik ausweiten, die sich im Nachhinein oft als unbegründet herausstellt.
  2. Verzerrte Einschätzung
    Wenn wir ein Risiko freiwillig auf uns nehmen, unterschätzen wir es eher. Vor Hepatitis B fürchtet sich kaum jemand, obwohl sie die häufigste Infektionskrankheit der Leber ist und als Hauptursache für Leberkrebs gilt. Hepatitis B wird vor allem beim Geschlechtsverkehr, beim Tätowieren und beim Piercen übertragen, also bei freiwilligen Aktivitäten.
  3. Zahlen täuschen oft
    Wir kennen nur das relative Risiko und nicht das absolute. Eine Erhöhung um 100 Prozent klingt dramatisch. Die Gefahr kann aber nur beurteilen, wer die absoluten Zahlen kennt.
  4. Konzentrierte Ereignisse
    Je mehr Menschen auf einen Schlag getroffen werden, desto grösser ist die Angst: Ereignisse mit vielen Geschädigten aufs Mal lösen grössere Angst aus als Risiken, die über einen längeren Zeitraum verteilt auftreten.