Giovanni de Luca* sitzt im Fumoir der Bahnhofsbeiz in Rapperswil-Jona. Der 53-Jährige erzählt. Ein Gipserbetrieb aus dem Zürcher Oberland schuldet ihm mehrere Monatslöhne. Die Firma hat Konkurs gemacht. Um 9994 Franken und 50 Rappen hat man ihn geprellt. Die Asche seiner Marlboro wird immer länger. Vor ihm steht ein Bier. Er rührt es nicht an. De Luca wird später mit dem Auto nach Hause fahren, silberner Kleinwagen, geliehen von einem Kollegen. Er will sich nichts zuschulden kommen lassen, hier in der Schweiz, wo alles so ordentlich und sauber ist. Jedenfalls aus der Ferne. Dass er hier mal um seinen Lohn gebracht würde, hätte er nie gedacht.
Ein Jahr lang arbeitet de Luca für die Gipserfirma Viaro AG aus Uster. Zusammen mit über 50 Männern, die meisten aus Süditalien. «Eine gute Truppe.»
Im Frühjahr 2016 werden die Löhne nur noch unregelmässig ausgezahlt. Dann bleibt das Geld ganz aus. De Luca wird gekündigt. Eine Temporärfirma stellt ihn ein, im Auftrag der Viaro AG, eine Weile lang kommt das Geld wieder pünktlich. Bis die Gipserfirma erneut nicht mehr zahlt. Die Temporärfirma hält die Löhne zurück. Für seine Arbeit im Sommer 2016 erhält de Luca wieder kein Geld.
Die Gipser wollen ihren Chef Rolando Franco zur Rede stellen. Dessen Reaktion? Er will sie einschüchtern. Giovanni de Luca formt mit der linken Hand eine Pistole und drückt sie gegen die Brust des Reporters: «Geht doch nach Hause oder zurück nach Italien!», habe der Chef gesagt.
30 Gipser schliessen sich zusammen und wehren sich. De Luca wird zu ihrem Sprachrohr im Streit ums Geld. Geld, das den 30 Handwerkern zusteht. Weil sie dafür gearbeitet haben, acht, neun, zehn und mehr Stunden am Tag, auf Baustellen im Mittelland. Weil sie Wände hochgezogen, Häuser isoliert und Decken verputzt haben.
«Ich war 1200 Kilometer weit weg von zu Hause und hatte nicht mal das Geld, um einen Liter Milch zu kaufen», wird de Luca im April im Unia-Magazin zitiert. Die Gewerkschaft hilft ihren Mitgliedern, schreibt Betreibungen für die Gipser, gibt denen Geld, die die Schnauze voll haben und zurück nach Italien wollen, die Heimreise aber nicht berappen können.
Die Unia ruft regelmässig zum Streik auf. Abgezockte Bauarbeiter und Handwerker mit Bauhelmen, Werkzeuggürteln und Stahlkappenschuhen stehen dann mit Transparenten und roten Fahnen auf der Baustelle: «Heute kein Lohndumping auf der Baustelle!» Dazwischen Unia-Mitarbeiterin Christa Suter in ihrer roten Weste.
Suter ist Präsidentin der kantonalen paritätischen Kommission des Bauhauptgewerbes Zürich. Seit zwölf Jahren ist sie auf Baustellen unterwegs und spricht mit den Arbeitern. So erfährt sie Geschichten von Lohndumping. «Wenn Bestandteile des Lohns nicht bezahlt werden, dann ist das Lohndumping. Egal, ob den Handwerkern bewusst zu wenig Lohn bezahlt wird, Spesen für das Mittagessen fehlen, der 13. Monatslohn einbehalten wird, Überstunden nicht verrechnet werden oder Ferientage fehlen», sagt sie. «Um wie viel Geld es geht, ist egal.»
Giovanni de Luca, der Süditaliener, ist sauber rasiert, die Haare ordentlich gegelt. Er trägt eine weiss-blaue Freizeitjacke, Jeans, weisse Turnschuhe. Um den Hals baumelt eine silberne Kette mit Jesus am Kreuz. Bevor er in die Schweiz gekommen ist, hat er während 22 Jahren in einer Fabrik für Baumaterial gearbeitet. Sein Lohn hatte für ein Haus für sich, seine Frau und seine Kinder gereicht. Mit der Wirtschaftskrise 2008 musste die Fabrik aber schliessen. Mehrere Jahre hat er eine neue Stelle gesucht. Erfolglos. Die Hypothek auf dem Haus, Strom- und Gasrechnungen mussten aber bezahlt werden. Und das Essen musste auf den Tisch kommen.
Also auf in die Schweiz. Hier kann er als Gipser eine Stelle suchen. Als Branchenfremder eingestuft in die Kategorie D, mit der Chance, sich während eines Jahres zum Hilfsarbeiter Kategorie C hochzuarbeiten. Der Gesamtarbeitsvertrag für das Maler- und Gipsergewerbe der Deutschschweiz schreibt einen Mindestlohn von 4061 Franken plus Zulagen vor. Italienische Bekannte helfen ihm bei der Stellenvermittlung. De Luca spricht kaum Deutsch. Begriffe wie «Betreibung» oder «Kündigung» kommen ihm aber mittlerweile mühelos über die Lippen.
Die letzte Kündigung erhält de Luca per Whatsapp. Das ist nach Schweizer Arbeitsrecht zulässig. Die Viaro AG hat ihn auf die Strasse gesetzt, neun Jahre bevor er in Rente geht.
Hinter der Firma steht das italienische Ehepaar Franco, beide Anfang 30. Rolando Franco hat seit 2012 mindestens zwei weitere Gipserfirmen im Kanton Zürich in den Konkurs geführt. Möglicherweise Strategie? Dass man mit Kettenkonkursen versucht, um Lohnforderungen und Sozialabgaben herumzukommen, ist in der Baubranche nichts Neues.
Ein Auftraggeber zahlte nach eigenen Angaben rund 1,5 Millionen Franken an die Viaro AG. Dafür sollte die Firma Gipser für einen Bauauftrag abstellen – einer von ihnen war Giovanni de Luca. Das Geld ist aber nicht bei den Arbeitern gelandet.
Ein anderer Auftraggeber beziffert seinen Schaden auf 950'000 Franken. Er hat Strafanzeige wegen Betrug gestellt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Anwalt des Ehepaars Franco will gegenüber dem Beobachter keine Stellung nehmen.
«Warum legt den Gaunern niemand das Handwerk? Wir sind in der Schweiz, nicht in Süditalien!»
Giovanni de Luca, Gipser
An den ehemaligen Betriebsstätten finden sich keine Hinweise mehr auf die Gipserfirmen des Ehepaars. Im Zürcher Oberland, im Hinterhof eines Bauernhofs, hat eine andere Baufirma ihr Büro und Lager. Davor stehen getunte Autos mit Zürcher Kennzeichen. Die Eingangstür wird per Videokamera überwacht. Gleich dahinter ein Zigarettenautomat. Es wird italienisch gesprochen. An die Viaro AG möchte sich hier niemand erinnern.
«Warum legt den Gaunern niemand das Handwerk?», fragt Giovanni de Luca. «Wir sind ja in der Schweiz und nicht in Süditalien!»
Was Rolando Franco heute macht, will sein Anwalt nicht sagen. Seine Ehefrau betreibt ein Brautmodengeschäft. Im Schaufenster Stehpuppen in Abendgarderobe, deren Preise eher an «made in China» als an italienische Designerware erinnern. Die Website für ihren Onlineshop meldete sie am 2. Januar 2017 an. Ende April bietet sie auf ihrer Facebook-Seite Limousinenfahrten an, für «Hochzeiten – Geburtstage – Partys – Ausflüge». De Luca kann sich das nicht leisten. Das Geld ist knapp, ab und an kauft er sich eine Schachtel Filterzigaretten. Mehr geht nicht.
Giovanni de Luca kennt das Geschäft. Es liegt im Erdgeschoss eines blassgelben Gewerbehauses im Zürcher Oberland – wie auch eine der konkursiten Gipserfirmen des Ehepaars. Stockwerke darüber leben die Francos mit ihren Kindern in einer Wohnung. Auch hier ist der Eingang videoüberwacht. Ein weisser Zettel mit dem Familiennamen klebt am Schild der Klingel.
Die Einladung zum Friedensrichter brachte die Polizei persönlich vorbei. «Ich habe auf rund 20 Prozent meiner Forderung verzichtet», sagt Giovanni de Luca. Die ausstehenden Löhne hat er inzwischen erhalten. Allerdings zu spät, um die Kreditraten für sein Haus in Süditalien bezahlen zu können. Das Haus – seine Altersvorsorge – hat er verkaufen müssen, mit Verlust. Seine Frau ist mit den Kindern in eine Mietwohnung gezogen.
Bevor Giovanni de Luca in die Schweiz gekommen war, hatte er das Land nur vom Hörensagen gekannt. «Schweizer sind pünktlich», «Schweizer sind ehrlich», «Schweizer haben einen Sauberkeitsfimmel». Giovanni de Luca glaubt weiter daran.
Er muss. Denn auch für die Rückkehrer gibt es in Italien keine Arbeit. Grosse Zukunftspläne hat er nicht. Giovanni de Luca denkt an morgen. Dann kann er eine neue Stelle auf einer anderen Baustelle antreten.
* Name geändert