Rudolf Schär aus Winterthur-Seen ist aufgebracht. Ein kürzlich gefällter Bundesgerichtsentscheid wird ihm und seiner Frau ein Bauprojekt in der Nachbarschaft bescheren, «das uns während mehr als sechs Monaten im Jahr die Sonne auf der Terrasse und in der guten Stube raubt». Die Eigentümer der fraglichen Liegenschaft wollen ihr 1930 erbautes Einfamilienhaus durch ein grosses Gebäude mit vier Wohnungen ersetzen. Gegen die Baubewilligung der Stadt hat Schär 2008 Rekurs eingelegt. Denn das Haus soll auf meterhohe Aufschüttungen zu stehen kommen, die im Lauf der Jahre vorgenommen wurden – und entsprechend weiter oben würde der Neubau enden.

Im Rekurs stützte er sich auf Verwaltungsgerichtsentscheide zum «gewachsenen Boden». Daraus kann geschlossen werden, dass bei Bauvorhaben das ursprüngliche, unbebaute Terrain massgebend ist. Schär berief sich zudem auf die Botschaft des Zürcher Regierungsrats zur Bauverordnung von 1977, wonach sich «kein Bauherr zulasten der Nachbarn einen Vorteil verschaffen können soll, der aufgrund des natürlichen Geländeverlaufs nicht bestünde».

Welches Terrain ist massgeblich?

Die Winterthurer Baubehörde teilte zunächst Schärs Meinung. Da aber die Pläne von 1930 keine Angaben zum Geländeverlauf enthielten, stützte sie ihren Entscheid auf die Geländehöhen von Umbauplänen des Bauherrn aus dem Jahr 1986 und bewilligte den Neubau. «Dabei hätte sie das Gesuch verweigern müssen, da die Höhenangaben alle einen Meter zu hoch sind», sagt Schär und belegt dies mit Plänen von damals und heute. Noch einmal anders sah es die von ihm angerufene Baurekurskommission: Sie erachtete das heute bestehende Terrain als massgeblich und bestätigte die erteilte Baubewilligung. Das Verwaltungsgericht, an das Schär danach gelangte, befand seinerseits den Entscheid der Vorinstanz als rechtens. Das ist erstaunlich, denn damit wich es vom Pfad seiner eigenen, erst kürzlich geänderten Rechtsprechung zum Paragraph 5 der Allgemeinen Bauverordnung (ABV) wieder ab.

Dieser Paragraph 5 definiert «gewachsenen Boden» als den «bei Einreichung des Baugesuchs bestehenden Verlauf des Bodens». Die frappante Unschärfe dieses Passus erlaubt zwei Lesarten: Er kann sich entweder auf den «bestehenden Verlauf des Bodens» bei Einreichung des erstmaligen Baugesuchs beziehen, im vorliegenden Fall also dasjenige von 1930. Oder aber er meint den Verlauf bei Einreichung des aktuellen Baugesuchs. Die zweite Lesart würde alle im Lauf der Zeit erfolgten Terrainveränderungen einschliessen. Diese Interpretation lässt zudem offen, ob schleichende oder mehrmalige, nicht bewilligungspflichtige Aufschüttungen, laut Gesetz «bis ein Meter Höhe und unter 500m2 Grundstücksfläche», auch zu «gewachsenem Boden» werden.

Die Nachbarn sind in Zukunft machtlos

Unlängst stützte nun auch das Bundesgericht die Auslegung des Zürcher Verwaltungsgerichts, wies Rudolf Schärs Klage ab und überwälzte alle Kosten auf ihn. Er ist überzeugt, dass der Lausanner Entscheid fatale Folgen hat: «Hausbesitzer können fortan ihre legal oder illegal erfolgten Aufschüttungen nutzen, um zulasten von Nachbarn höher oben zu bauen.» Betroffene Nachbarn wie er müssten demgegenüber einen Wertverlust ihrer Liegenschaft erdulden, ohne sich wehren zu können.

Für Roland Polentarutti von der Zürcher Baudirektion wird sich an der Bestimmung zum Begriff des «gewachsenen Bodens» im Kanton Zürich vorerst nichts ändern, da der Beitritt Zürichs zur Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der Baubegriffe (IVHB) noch offen sei. Die IVHB legt den Begriff des «gewachsenen Bodens» nach jener Lesart von Paragraph 5 ABV fest, die auf die Verhältnisse beim Einreichen des allerersten Baugesuchs Bezug nimmt.

In Zürich gilt nun aber nach dem Lausanner Entscheid für Ersatzbauprojekte das bestehende Terrain als «gewachsener Boden», sofern nicht in den vorangehenden zehn Jahren in bewilligungspflichtigem Ausmass aufgeschüttet worden ist. Weitere Konflikte sind programmiert – denn wer kann schon Zeitpunkt und Ausmass von nicht bewilligten Veränderungen von Grundstücken nachweisen?