Benedikt «Benno» Loderer, Jahrgang 1945, ist gelernter Hochbauzeichner, diplomierter Architekt ETH und einer der profiliertesten Architekturkritiker der Schweiz.

Der Gründer der Architekturzeitschrift «Hochparterre» war dort bis 1996 Chefredaktor, später Redaktor.

Schon seit 30 Jahren ist Loderer als «Stadtwanderer» unterwegs – als Flaneur, der die räumliche und architektonische Entwicklung der Schweiz stets kritisch betrachtet. «Architekturkritik ist immer auch Schweizkritik», lautet sein Credo. Loderers Schelten für die «Hüslimenschen» sind legendär; mit seinen markigen Sprüchen schont er auch die eigene Zunft nicht.

Seit diesem Frühjahr ist der streitbare Publizist pensioniert. Von Ruhestand will Loderer dennoch nichts wissen, im Gegenteil: Mit seinen messerscharfen Analysen der helvetischen Befindlichkeit ist auch in Zukunft zu rechnen. Benedikt Loderer ist seit fünf Jahren verheiratet und lebt mit seiner Ehefrau, einer Künstlerin, in der Altstadt
von Biel.

BeobachterNatur: Herr Loderer, Sie haben 40 Jahre lang in Zürichs Altstadt gewohnt, jetzt leben Sie in Biel. In die Agglomeration würden Sie wohl nie ziehen?
Benedikt Loderer: Diese Erfahrung habe ich zum Glück schon hinter mir. Ich bin in einem Einfamilienhaus aufgewachsen und habe meine Jugend als Gartensklave und Rasenmähersöldner verbracht – das reicht mir.

BeobachterNatur: Dann gründen Ihre Tiraden gegen das Einfamilienhaus in einem Kindheitstrauma?
Loderer: Sie täuschen sich: Das sind keine Tiraden, sondern ökonomisch korrekte Feststel-lungen. Das Einfamilienhaus ist die teuerste, aufwendigste und am wenigsten nachhaltige Wohnform. Aus wirtschaftlichen Gründen müsste man die «Hüslibesitzer» hoch besteuern, damit sie die Kosten, die sie verursachen, auch wirklich bezahlen.

BeobachterNatur: Als Kinderloser können Sie womöglich schlecht nachvollziehen, warum viele junge Familien im Grünen wohnen möchten.
Loderer: Das ist alles reine Ideologie. Man kann die Kinder auf einer Terrasse genauso gut spielen lassen wie im Garten. Überhaupt ist das Grundstück meistens sowieso zu klein für einen richtigen Garten, in dem man Gemüse anpflanzt. Aber der kleine Fleck Rasen muss trotzdem mit einer riesigen Maschine gemäht werden. Das Schlimme daran ist, dass die Leute ihr Tun nicht in Frage stellen wollen. Noch schlimmer: Die Kinder wollen das sauer verdiente Häuschen dann gar nicht – die ganze Anstrengung der Eltern war für nichts.

BeobachterNatur: Sie selber wären demnach lieber in der Stadt aufgewachsen?
Loderer: Ich wäre glücklich gewesen, hätten meine Eltern in der Altstadt von Bern gelebt. Städte sind für Kinder doch 1000-mal interessanter als Felder und Wälder – da ist etwas los, da kann man etwas lernen. Am Samstagnachmittag kann ich immer noch in die Pfadi gehen, wenn ich den Wald brauche. Und von wegen «Städte sind weniger kinderfreundlich»: Es gibt in der Schweiz keine Wohnung, die mehr als zehn Minuten vom nächsten Spielplatz entfernt liegt.

BeobachterNatur: Sie geben der Wohnform Einfamilienhaus die Schuld an der Zersiedelung der Schweiz. Ist es nicht unfair, den Menschen den Traum vom Häuschen im Grünen zu vergällen?
Loderer: Dass die «Hüslipest» Schuld ist an der Zersiedelung der Schweiz, ist eine Tatsache. Es geht nicht nur um das Grundstück, auf dem das Häuschen steht, es geht auch um die Infrastruktur, die es benötigt – die zuführenden Strassen, das nahe Einkaufszentrum. Eine Generation früher haben wir noch die Hälfte des heutigen Wohnraums – 45 Quadratmeter – beansprucht. Diese Zunahme um 100 Prozent macht genau den Zersiedelungseffekt aus.

BeobachterNatur: Sie wohnen selber auf 90 Quadratmetern. Wie geht das auf?
Loderer: Wer ohne Widersprüche ist, werfe den ersten Stein (lacht). Immerhin steht das Haus in der Bieler Altstadt schon mehr als 500 Jahre. Das Problem ist: Wir können es uns leisten zu bauen, also tun wir es auch. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass dieses «Dickwerden» der Schweiz eine neuere Entwicklung ist. Seit 1945 bauen wir mehr als alle Gene-rationen vor uns. Ich bin nicht damit einverstanden, dass wir in den nächsten 50 Jahren noch mal so viel bauen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, allein schon wegen der enormen Folgekosten. Ein Beispiel: Wenn wir so viel Kanalisation erneuern würden, wie wir gemäss Verfallswert müssten, wären wir ununterbrochen am Strassenaufreissen.

BeobachterNatur: Jeder überbaute Quadratmeter lässt ein Stück Natur verschwinden. Sind Sie auch aus ökologischen Gründen gegen die Zersiedelung?
Loderer: Die sogenannten Naturliebhaber sind die Ersten, die die Natur zerstören: Jede Erstbesteigung endet mit einem Skilift. Je mehr wir die Alpen erschliessen, desto mehr machen wir sie kaputt. Der wahre Naturschützer ist der Stubenhocker – er lässt die Natur in Ruhe.

BeobachterNatur: Wurden Sie darum zum «Stadtwanderer»?
Loderer: Ich als Stadtwanderer bin eigentlich ein Supergrüner, ich beanspruche ja so wahnsinnig wenig Natur. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die mit dem Bike im Wald herumfahren und Tiere aufscheuchen, ich muss die Berge auch nicht mit dem «Bähnli» erklimmen. Mir genügt es, die Alpen – vom Säntis bis zum Mont Blanc – von der Jurakante aus anzuschauen. Die meisten Grünen haben ein sentimentales Verhältnis zur Natur und kein rationales. Sie denken nicht zu Ende. Sie denken, die Natur sei etwas Schönes, Grosses, Edles, Wunderbares.

BeobachterNatur: Und wie sehen Sie die Natur?
Loderer: Die Natur ist eine ziemlich grausame Maschine. Aber sie hat ihre Regeln. Und wenn man die kennt, weiss man, was man der Natur antun kann – und was nicht. Um die Natur zu retten, müssen wir als Erstes unseren Konsum einschränken. Das Beste für die Natur wäre sowieso, wir verarmten. Nichts konserviert so gut wie die Armut.

BeobachterNatur: Sie können den Konsum ja nicht verbieten.
Loderer: Das ist genau das Problem: Jemandem zu sagen, er solle sich einschränken, das geht natürlich nicht, das ist tabu. Der Weg führt über die Einführung der Kostenwahrheit. Wer konsumiert, soll dafür bezahlen. Wir müssen für den Transport das zahlen, was er tatsächlich kostet, auf der Schiene wie auf der Strasse. Wir müssen die Folgekosten der «Hüslibauerei» denjenigen verrechnen, die in den Häuschen wohnen, und wir dürften via Steuerreduktionen für Hausbesitzer die Zerstörung der Natur nicht noch mehr unterstützen.

BeobachterNatur: Mobilität, Reisen und nicht zuletzt der Naturgenuss wären dann nur noch für die Reichen erschwinglich.
Loderer: Früher war es so; vor 100 Jahren ging ausser dem gehobenen Bürgertum keiner ins Gebirge. Heute sind wir der Ansicht: Allen steht jederzeit alles zu. Nur vergessen wir die Folgekosten. Wir leben sozusagen auf Pump – und diejenigen, die nach uns kommen, haben dann den Dreck.

BeobachterNatur: Die heile Guisan-Schweiz scheint definitiv vorbei zu sein. Wie sehen Sie die Zukunft?
Loderer: In den Köpfen einiger SVP-Politiker gibt es dieses veraltete «Dörflidenken» vielleicht noch. Tatsache ist, dass heute bereits über 70 Prozent der Bevölkerung in der Agglomeration wohnen. Und wenn wir schauen, wie wir uns bewegen und konsumieren, hat das mit der Guisan-Schweiz nicht mehr viel zu tun. Die Zukunft der Schweiz wird nicht hier entschieden. Das hat die leidige Geschichte um das Bankgeheimnis gezeigt. Heute machen wir nur noch den Bückling.

BeobachterNatur: Wie müsste Raumplanung denn aussehen? Plädieren Sie für einen Baustopp?
Loderer: Nein, das nicht. Es darf bloss nicht noch mehr Land überbaut werden. Man müsste den Kantonen die Raumplanung wegnehmen, die Befugnisse des Bundes erweitern und dann neue Prioritäten setzen: um-zonen. Und dort verdichten, wo es noch Platz hat, zum Beispiel an den Goldküsten der Schweiz. Die Villenbesitzer muss man deswegen nicht enteignen – das besorgen die Erben, die das Grundstück überbauen, weil sie so am meisten Geld kriegen.

BeobachterNatur: Verdichtet bauen kann man nicht nur in Villengegenden, sondern auch in Industriebrachen.
Loderer: Ja, und dort macht es auch Sinn. Schauen Sie zum Beispiel nach Zürich-West: Dort haben wir Dichten, die viel höher sind als in den üblichen Agglomerationen. In Basel zum Beispiel praktiziert man das verdichtete Bauen schon viel länger – gezwungenermassen, weil das Reinknie eine Sardinenbüchse ist, die nicht wachsen kann. Die Rechnung ist einfach: Wenn die Leute doppelt so viel Raum beanspruchen, müssen sie doppelt so viel verdichten.

BeobachterNatur: Was halten Sie von Hochhäusern wie dem in Zürich-West entstehenden Prime Tower?
Loderer: Der ist insofern richtig, als er an einem Ort steht, wo die Erschliessung durch die nahe S-Bahn-Station gewährleistet ist. Wenn ich eine solche Anhäufung von Arbeitsplätzen wie in Zürich-West plane, dann muss ich auch dafür sorgen, dass das Gebiet gut erschlossen ist. Ob der Turm dann wirklich schön ist, werden wir sehen, wenn er fertig gebaut ist.

BeobachterNatur: Viele neue städtische Siedlungen sind Betonwüsten. Da haben Ihre Architektenkollegen ziemlich gesündigt.
Loderer: Sie müssen den Häusern eine Chance geben. Die städtischen Arbeiterwohnungen im Zürcher Kreis 4, die wir vor 50 Jahren am liebsten abgerissen hätten, stehen heute unter Schutz. Das heisst, die Ästhetik ändert sich, die Nutzung ändert sich. Wahrscheinlich hätte in meiner alten Zürcher Wohnung vor 150 Jahren eine sechsköpfige Familie gehaust – in einem feuchten, dunklen Loch. Die Altstadt ist heute ausgehöhlt und durchgestriegelt, jede Ecke ist aufgepeppt bis zum Elend. Nur in einer armen Altstadt wie Biel ist noch alles da.

BeobachterNatur: Viele Familien ziehen aufs Land, weil sie sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten können. Ist das nicht eine Fehlentwicklung?
Loderer: Das ist auch für die «Hüslimenschen» der Grund, weshalb sie nach Hintergiglen ziehen: weil es dort Land gibt, das sie sich leisten können. Nur: Sie denken die Idee nicht zu Ende, sie machen die Rechnung nicht bis zum Schluss. Dass sie dann zum Beispiel zwei Autos brauchen – das blenden sie aus.

BeobachterNatur: Neue Häuser sind aber energetisch besser: Stichwort Minergie.
Loderer: Das ist gut, keine Frage. Aber wir dürfen nicht nur beim Wohnen ansetzen. Viel wichtiger wäre, sich jetzt auch einmal mit dem Verkehr zu beschäftigen.

BeobachterNatur: Sie sind ja nicht der Erste, der sagt, dass wir uns einschränken müssten. Das Ende der Konsumgesellschaft wurde bereits mehrmals propagiert. Bloss: Gebracht haben solche Aufrufe jeweils nicht viel.
Loderer: Der Konsum ist ein Tabu, wie gesagt, daran darf man nicht rütteln. Solange die Menschen Geld haben und sich etwas leisten können, werden sie weiter konsumieren. Freiwillig werden wir auf nichts verzichten. Erst muss uns die Rechnung präsentiert werden – und die kommt garantiert. Wenn wir das System weiter am Laufen halten wollen, dann müssen wir das System auch pflegen.

BeobachterNatur: Ist das jetzt ein indirekter Aufruf an den Staat, stärker zu regulieren?
Loderer: Ja, natürlich.

BeobachterNatur: Sie sagten einmal, die Schweiz werde zur Metroschweiz mit den Grossstädten Zürich, Genf und Basel. Der Rest vermische sich zum «Agglomerationsbrei». Gibt es noch ein anderes Szenario?
Loderer: Die Alternative ist, dass wir uns zur Retroschweiz entwickeln – zu einem europäischen Liechtenstein, einem grundsätzlich ländlichen Gebiet, einem «herausgepützelten» Ballenberg. Im Fall Retro verarmt die Schweiz, sie hat kein Geld für umfassende Infrastrukturprogramme. Gebaut wird nur minimal, grosse Projekte wie Autobahnen und Tunnels landen in der Schublade.

BeobachterNatur: Zu befürchten ist, dass sich die Landschaft mit dem Rückgang der Bauernbetriebe noch stärker verändert.
Loderer: Wir sind doch längst kein Bauernland mehr, obschon wir immer noch einen antistädtischen Reflex zeigen. Wir haben die Landwirtschaft als Nationalpark, als geschützte Werkstatt 50 Jahre lang subventioniert – und tun es heute noch. Wenn wir der Landwirtschaft die Subventionen streichen, ist sie tot. Auf dem frei werdenden Land, das für die Bauern einst so wertvoll war, bauen wir jetzt drauflos, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.

BeobachterNatur: Sie sind seit kurzem in Pension. Dürfen wir mit Ihrer Altersmilde rechnen?
Loderer: Im Gegenteil. Ich bin gespannt auf meine Alterswut. Ich werde nicht zurückkrebsen. Das ist doch viel besser, als Golf zu spielen oder zu fischen.