Geschichten aus der Nachbarschaft

Nachbarinnen und Nachbarn erleichtern unser Leben, helfen, wenn das Salz ausgeht, tragen schwere Einkaufstaschen die Treppen hoch. Oder aber sie machen uns die Hölle heiss, beklagen sich über ein nicht ordnungsgemäss angebrachtes Schuhgestell, schimpfen über lautes Kinderlachen, petzen bei der Verwaltung. 

Nachbarschaft ist ein soziales Phänomen, das zwar alle kennen, aber ganz unterschiedlich aufgefasst wird. Über die Feiertage erzählen Angehörige der Beobachter-Redaktion, was sie mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn erlebt haben.

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Das nette ältere Pärchen von gegenüber kannte ich schon länger. Aber richtig in Kontakt kamen wir erst im Shutdown. Ich kaufte regelmässig für sie ein. Bio-Kartoffeln und Ricotta verbinden. Und Schokolade.

Der Nachbar, schlank, buschige Augenbrauen, gegen die neunzig, war früher Seelsorger. Ein Herz von einem Menschen. Seine Frau war und ist Musikerin. Etwas jünger, elegant und charmant. 

Mit beiden verband mich bald eine feine Freundschaft. Kein Tamtam, einfach eine Art Seelenverwandtschaft. An Ostern schenkte ich ihnen Praliné-Eili, und sie waren die Ersten, die mir nach einem längeren Spitalaufenthalt Blumen und selbst gemachten Aprikosenkuchen vorbeibrachten.

Irgendwann ging es ihm immer schlechter. Er konnte nur noch mit dem Rollator hinaus, später vergrub er sich in seiner Wohnung, wurde immer schwächer. Er litt, seine Frau litt. Die Ärztinnen gaben ihm noch ein paar Monate.

Eines Tages stand der Leichenwagen vor dem Haus. Ich weinte. Der Nachbar war gegangen.

Einige Wochen später sass ich bei der Nachbarin auf dem Balkon, ihrem grünen Refugium. Auch die Liebe zu Pflanzen verbindet uns. Sie erzählte mir detailliert vom Tod ihres Mannes. Sehr persönlich, sehr intim. Ich staunte und war dankbar. Dankbar, dass sie mich ins Vertrauen zog, mir Dinge erzählte, die mir noch nie jemand erzählt hat. 

Seither gehen wir ab und zu spazieren oder Kaffee trinken. Ihr Mann, mein Lieblingsnachbar, ist immer irgendwie dabei.

Welcher Nachbarschaftstyp sind Sie?

Die Distanzierten (47 Prozent der Bevölkerung)

Ihnen sind Abstand, Diskretion und Unabhängigkeit wichtig, sie möchten weder gestört werden noch jemandem zurLast fallen. Im Notfall sind sie aber zur Stelle. Und ab und zu schätzen sie auch zweckorientierte Treffen.

Die Inspirationssuchenden (30 Prozent)

Für sie stehen Toleranz und anregende Begegnungen im Vordergrund. Inspirationssuchende schätzen kollektive, sinnerfüllte Aktionen und Vielfalt und suchen den Blick überden eigenen Tellerrand hinaus.

Die Beziehungspflegerinnen und -pfleger (14 Prozent)

Sie wünschen sich ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis in einer homogenen, harmonischen Nachbarschaft. Sie legen Wert auf enge Kontakte, Gemeinschaftsaktivitäten und gegenseitige Unterstützung im Alltag.

Die Wertorientierten (9 Prozent)

Sie möchten unter Leuten leben, die ähnliche Ansichten teilen. Statt enger Beziehungen wünschen sich Wertorientierte respektvolle Distanz und einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Sie sind hilfsbereit. Im Alltag reicht ihnen ein gelegentlicher Austausch im Treppenhaus.

Quelle: «Hallo Nachbar:in. Die grosse Schweizer Nachbarschaftsstudie» des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, August 2022. Um die Studie einzusehen, hier klicken.