Mit seinen grauschwarzen Locken und dem imposanten Schnurrbart könnte Emrlah Selimi glatt in einer Karl-May-Verfilmung mitwirken. Den Rollstuhl, den der stattliche Mann tagein, tagaus vor sich herschiebt, müsste er dann allerdings abgeben. Doch das kann er nicht.

Im Rollstuhl sitzt sein Stiefsohn Carlo Maruccio*, der seit Geburt unter spastischer Zerebralparese und weiteren Krankheiten leidet. Carlo ist von A bis Z auf Hilfe angewiesen. Und die leistet sein Stiefvater – seit 31 Jahren. Seinen Beruf, Elektriker, musste der 57-Jährige aufgeben.

Emrlah Selimi sagt von sich selbst: «Ich bin fast eine Frau. Ich denke auch mit dem Herzen und pflege gern.» Das hat eine Geschichte. Er wuchs in Serbien auf und erlebte hautnah mit, wie Behinderte ausgegrenzt, verspottet, ja misshandelt wurden. «Sogar mein Lehrer hat einen kleinwüchsigen Mitschüler getreten und ihm gesagt, es sei Gottes Strafe, dass er ‹eine Missgeburt› sei. Ich habe mich für ihn gewehrt.» 

Mit drei Jahren in Brunnenschacht gefallen

In seinem Elternhaus erlebte Selimi das Gegenteil. Sein jüngerer Bruder, mit drei Jahren in einen Brunnenschacht gefallen und körperlich schwer beeinträchtigt, wurde liebevoll gepflegt.

Heute sagt Selimi: «Mein Stiefsohn Carlo ist wie mein eigenes Kind. Ich habe meiner Frau auf dem Sterbebett geschworen, dass ich ihm wie unserem gemeinsamen Sohn gut schauen werde. Das war immer so und ist auch jetzt so.»

Dem widersprechen die zuständigen Sozialen Dienste Zürich nicht. Man schätze «das gute Betreuungsverhältnis für den Klienten Carlo Maruccio» sehr, und es liege dem Amt viel daran, das Arbeitsverhältnis mit seinem pflegenden Stiefvater Kesb Wenn Eltern Buchhalter werden weiterzuführen, schreiben sie in einer Stellungnahme. Nur kosten darf es nicht viel.

Er arbeitet für drei

Einen Schwerstbehinderten zu betreuen und zu pflegen, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, ist mehr als ein Vollzeitjob. Ginge es nach dem Arbeitsgesetz, müssten sich drei Personen die Arbeit teilen. Doch seit Jahren leistet Selimi die Pflege ganz allein. «Am Anfang pflegten meine Frau und ich Carlo gemeinsam. Doch 1992 starb sie an Krebs.» Den hatte man entdeckt, als sie von ihrem gemeinsamen Sohn entbunden wurde.

Dann stand der junge Witwer allein da. Allein mit seinem Schmerz, einem schwerstbehinderten Achtjährigen und einem dreijährigen Knirps, der gerade seine Mutter verloren hatte. Selimis Arbeitgeber ging im selben Monat in Konkurs. «Das muss man sich mal vorstellen.» Selimis Vater half, wo er konnte. «Doch 2012 verlor ich auch ihn.»

Endlich ein festes Einkommen

Vier Jahre zuvor hatte Carlos Beistand eine Idee gehabt: Stiefvater Emrlah Selimi ganz offiziell anstellen. Arbeitgeber wäre Carlo Maruccio, die finanzielle Abwicklung würde über ihn als Beistand respektive die Sozialen Dienste Zürich laufen. Der Deal: 6000 Franken brutto im Monat, Ferien und 13. Monatslohn inbegriffen. Die vereinbarte Arbeitszeit lag bei 50 Stunden pro Woche, auch wenn eine externe Fachstelle zum Schluss gekommen war, dass ein Pflegebedarf von täglich 15 Stunden ausgewiesen sei.

Aber Selimi war zufrieden. Mit seiner Unterschrift, mit der er den Vertrag am 16. Januar 2008 besiegelte, hatte er endlich ein festes Einkommen und Anerkennung für seine Arbeit. Von diesem Deal profitierte auch die öffentliche Hand, bis heute: Wäre Carlo in einem Heim untergebracht, würde das den Steuerzahler mindestens das Doppelte kosten.

«Der damalige Beistand von Carlo war ein sehr hilfsbereiter und netter Mensch», erinnert sich Selimi. Er habe seinen Schützling auch oft besucht und sich nach ihm erkundigt. Doch der Mann wurde pensioniert, ein Neuer kam. Dann nochmals ein Wechsel, diesmal eine Beiständin. Und sie hatte eine deutlich weniger gute Idee.

Plötzlich 1000 Franken weniger im Monat

Ende April 2018 legte sie dem verdutzten Emrlah Selimi einen «Änderungsvertrag zum Arbeitsvertrag vom 16. 1. 2008» zur Unterschrift vor. Der Lohn: 5000 statt 6000 Franken. Die wöchentliche Arbeitszeit 42 Stunden statt 50 – obwohl der effektive Aufwand nach wie vor bei 105 Stunden lag. Selimi verweigerte die Unterschrift. Und nach und nach wuchs die Gewissheit, dass die Sozialen Dienste Sozialämter Die Sozialhilfe spart ohne Plan seit Jahren ein riesiges buchhalterisches Durcheinander machten und machen, zum Schaden von Emrlah Selimi.

Grund für den fragwürdigen Versuch, den Arbeitsvertrag zu verändern, war eine Verfügung von 2008. Darin garantierte das Amt für Zusatzleistungen die Zahlung eines jährlichen Betrags von 72'000 Franken für die Pflege. Später fanden die Sozialen Dienste allerdings heraus, dass mit diesem Geld nicht nur Selimis Lohn bezahlt werden musste, sondern auch die Arbeitgeberbeiträge für die verschiedenen Sozialversicherungen.

Das Chaos nahm seinen Lauf.
 

«Herr Selimi musste zu hohe Steuern bezahlen, für einen Lohn, den er weder erhalten noch versichert hatte.»

Anwalt Pierre Heusser


Während Jahren betrug das versicherte Jahreseinkommen lediglich 60'000 statt der vertraglich vereinbarten 72'000 Franken. In einzelnen Jahren dann doch wieder die ganze Summe. Es kam auch vor, dass im Lohnausweis für das Steueramt 72'000 Franken abgerechnet wurden, bei den Sozialversicherungen aber nur 60'000. «Damit wurden Herrn Selimi nicht nur Lohn und Sozialversicherungsbeiträge vorenthalten. Er musste auch zu hohe Steuern bezahlen, für einen Lohn, den er weder erhalten noch versichert hatte», sagt Selimis Anwalt, Pierre Heusser, dessen Engagement die Stiftung SOS Beobachter Über uns Über die Stiftung SOS Beobachter bezahlt. Auch der Unfallversicherung war der tiefere Lohn von 60'000 Franken angegeben worden.

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«Ich motze nicht gleich»

Selimi besitzt seit Jahrzehnten die Schweizer Staatsbürgerschaft, versteht und spricht Mundart und Hochdeutsch bestens. Amts- und Juristendeutsch ist aber für ihn nicht einfach zu verstehen. «Ich bin zudem ein sehr geduldiger und dankbarer Mensch und motze nicht gleich», erklärt er. «Und ich dachte natürlich, die Sozialen Dienste und die Beistände wissen schon, was sie tun.»

Nun, nicht ganz. Nicht nur hat Selimi rund zehn Jahre lang zu wenig Lohn erhalten, ihm wurden auch noch die Arbeitgeberbeiträge vom Lohn abgezogen. Zudem hat es den Anschein, dass das Amt nun sogar für jene Jahre, in denen korrekt abgerechnet wurde, die Arbeitgeberbeiträge zurückfordert. Kontoauszüge der Pensionskasse legen diesen Schluss nahe.

Auch mit den neuen Beiständen lief einiges schief. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Bett. Carlo braucht seit Jahren ein neues Pflegebett, das alte wird nur noch von Klebstreifen und Schnüren zusammengehalten. Zudem ist es zu schmal. «Carlos Bewegungsradius ist durch seine Krankheit selbst im Liegen massiv eingeschränkt. Wenn er im Schlaf rumrobbt, verheddert er sich manchmal in den Gitterstäben. Das löst bei ihm einen epileptischen Anfall aus, weil er sich nicht befreien kann», sagt Emrlah Selimi.

Schon 2015 begann er, nach einem passenden Bett zu suchen. In Kreuzlingen wurde er fündig. Zusammen mit der Empfehlung von Carlos Hausarzt schickte er die Offerte des Herstellers an den Beistand. Ein Bett erhielt Carlo trotzdem nie. «Ich legte dem Herrn immer wieder Offerten persönlich vor, doch der schmiss sie vor meinen Augen in den Papierkorb», sagt er.

Beiständin liess sich verleugnen

Auch die aktuelle Beiständin wollte nichts von einem neuen Bett wissen, geschweige denn von Selimis Wunsch, die Sache mit dem Vertrag zu klären. Am Telefon liess sie sich jahrelang verleugnen. Nicht einmal auf eingeschriebene Briefe reagierte sie. Sie hat ihren Klienten in den zweieinhalb Jahren seit ihrem Amtsantritt nicht ein einziges Mal gesehen. Nicht nur Anstand und Menschlichkeit schreiben Besuche vor, sondern auch das Zivilgesetzbuch.

Emrlah Selimi wurden mutmasslich Zigtausende Franken vorenthalten. Ausgerechnet ihm, der mit sehr viel Liebe eine Arbeit verrichtet, die nur die wenigsten aushalten würden. «Wir stellen uns auf den Standpunkt, dass Herr Selimi seit zehn Jahren einen rechtskräftigen schriftlichen Arbeitsvertrag über jährlich 72'000 Franken brutto hat», sagt Anwalt Pierre Heusser. Das Gesetz sehe in solchen Fällen zwar eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vor. «Unseres Erachtens wäre es nur anständig, wenn die Sozialen Dienste zu ihren Fehlern stehen und den vorenthaltenen Lohn vollumfänglich nachzahlen würden, statt sich hinter der gesetzlichen Verjährung zu verstecken.»

Über zwei Monate nachdem Selimis Anwalt Fragen bei den Sozialen Diensten deponierte, hat er noch immer keine konkreten Antworten. Eine Lohnbuchhaltung im eigentlichen Sinn habe es nie gegeben. «Wir prüfen zurzeit den Fall und die von Herrn S. formulierten Vorwürfe. Für allfällige Fehler unsererseits werden wir die Verantwortung übernehmen», antwortete das Sozialdepartement Zürich auf Fragen des Beobachters. 

Immerhin wird Carlo jetzt eine neue Beiständin oder einen neuen Beistand erhalten.


* Name geändert

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