Durch die Digitalisierung liessen sich in Schweizer Amtsstuben riesige Summen einsparen. Neun Milliarden Franken kostet allein die Verwaltung der Sozialversicherungen. Wie viel Bund, Kantone und Gemeinden für die Verwaltung insgesamt ausgeben, weiss niemand. Dazu gibt es nicht einmal grobe Schätzungen.

Die Digitalisierung hat in wenigen Jahren ganze Branchen aufgemischt. Doch der Kontakt von Bürgern zu Ämtern und Behörden verläuft wie anno dazumal. Meist analog und mit viel Papier – obwohl 93 Prozent der Haushalte über einen Internetanschluss verfügen. Bei vielen Ämtern muss man sogar persönlich vorsprechen.

Das Matterhorn-Syndrom

Doch wenn wie in der Schweiz ja alles bestens funktioniert – warum soll man sich dann mit dem Problem der Verwaltungskosten aufhalten? Die Schweiz kranke am Matterhorn-Syndrom, sagt Martin Vetterli, Präsident der EPF Lausanne. Man meint, man sei oben angekommen und müsse nichts mehr tun. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung kann sich das sehr rasch rächen. Zuwarten verschlingt Zeit und wird teuer. 

Zum Beispiel in der Arbeitslosenversicherung: Wenn alle Kassen so effizient wie die beste arbeiten würden, liessen sich bereits 50 Millionen Franken sparen. Das hat die Eidgenössische Finanzkontrolle letzten Sommer vorgerechnet. Der Kostenvorteil wäre noch deutlich grösser, wenn die Kassen die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen würden.

Die Arbeitslosenversicherung ist ein Paradebeispiel für wuchernde Bürokratisierung. Es gibt: 25 öffentliche und 8 private Arbeitslosenkassen, 169 Zahlstellen, 4 regionale Konferenzen, 6 Kommissionen und 24 Logistikstellen für arbeitsmarktliche Massnahmen. Die Gewerkschaft Unia, die die meisten Zahlstellen betreibt, kassierte dafür 2016 total 45 Millionen Franken Entschädigung.

Das Entschädigungssystem ist umstritten – auch deshalb, weil die Gewerkschaften Unia und Syna und die drei Kantone Aargau, St. Gallen und Waadt pauschal abrechnen und nicht nach tatsächlichem Aufwand. Dass sich das lohnt, kann man im Kanton St. Gallen beobachten. Dort beläuft sich der jährliche Gewinn der Kasse im Schnitt auf 1,45 Millionen Franken. Das Geld fliesst in die Staatskasse. Wie viel die Gewerkschaften verdienen, legen sie nicht offen.

Tests mit E-Voting seit 2004

Gemäss Finanzkontrolle liessen sich auch «administrative Lasten, die durch Silostrukturen entstehen, durch verwaltungsübergreifende Vernetzung» problemlos abbauen. Es genüge nicht, bestehende Prozesse einfach zu digitalisieren Dokumente digitalisieren So sorgen Sie papierlos für Ordnung . Sie müssten vereinfacht und harmonisiert werden. Die frei werdenden Kapazitäten könnte man nutzen, um die Stellensuchenden besser zu betreuen. Doch die Chancen der Digitalisierung blieben ungenutzt.

Trotzdem reagiert das zuständige Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung zurückhaltend. Das heutige System sei anerkannt. Man wolle «die Empfehlung im Rahmen der in der Arbeitslosenversicherung stark verankerten Evaluationskultur» aber prüfen. 

Auch in anderen Bereichen hält man lieber am Altgewohnten fest. Seit 2004 laufen Versuche mit dem E-Voting, der elektronischen Stimmabgabe. Doch erst jetzt – 14 Jahre später – hat der Bundesrat die Vernehmlassung dazu eröffnet. Man sei nun so weit, ein E-Voting mit verifizierbaren und sicheren Systemen anzubieten. Und schon hagelt es Kritik von links bis rechts; Hacker warnen vor Sicherheitslücken Angriffe durch Hacker «Jede Branche ist gefährdet» , Datenschützer vor Datenverlust. Man sieht weniger die Chancen und spricht lieber von den Risiken für die Demokratie.

Warten auf elektronisches Patientendossier und Dienstbüchlein

Derselbe Rumpelkurs beim elektronischen Patientendossier. Wenn Diagnosen und Therapien elektronisch gespeichert wären, könnten Patienten ihre Daten an Ärzte und Spitäler weitergeben, Rezepte liessen sich papierlos in Apotheken einlösen. Nach jahrelangen Verzögerungen war auf 2018 eine schweizweite Lösung angekündigt. Inzwischen ist von 2020 die Rede. Es habe länger gedauert, die notwendigen Informatikplattformen zu entwickeln. Und der Widerstand war grösser als gedacht. 

Selbst bei weniger komplexen Neuerungen geht es nur schleppend voran. Die Armee plant seit 2007 ein elektronisches Dienstbüchlein. Damals wurden 500 Dienstpflichtige befragt, das Echo war positiv. 2008 gab die Armee ein Vorprojekt in Auftrag, 2009 folgte der Rückzieher. Es gebe technische und finanzielle Probleme, und es sei unklar, ob das elektronische Dienstbüchlein überhaupt einen Mehrwert bringe.

Das Projekt wurde bis Ende 2012 auf Eis gelegt. Vier Jahre später war von einer weiteren Studie die Rede. Doch erst jetzt ist das Thema im Parlament angekommen. 

Könnten bis zu 1,2 Milliarden Franken gespart werden?

Die digitale Verweigerung verursacht zunehmend Kosten. Wie viel, ist unklar. Beim Bund Bund verhindert Umbau In diesem Stall darf niemand wohnen , der Universität St. Gallen und der Beratungsfirma Boston Consulting Group kann man die Frage nicht beantworten. Es klingt dann so: «Es gibt Schätzungen zu einzelnen Fachbereichen, jedoch nicht übergreifend auf die gesamte Verwaltung von Bund, Kantonen und Gemeinden», antwortete etwa die Geschäftsstelle E-Government Schweiz.

«Wie viel sich sparen liesse, ist tatsächlich nur sehr schwer abzuschätzen. Das hängt davon ab, was wo und wie digitalisiert wird», sagt Ali A. Guenduez, Leiter Smart Government Lab an der Uni St. Gallen. Er verweist auf Studien zur Freigabe von Daten zwischen den Behörden (Open Government Data). Weil so Gebühren wegfallen und Abläufe kürzer würden, könnten allein dadurch bis zu 1,2 Milliarden Franken gespart werden.

Schweiz im UN-Ranking zu E-Government nur auf Platz 15

Aussagen, wie hoch der Verwaltungsaufwand etwa bei Grundbuchtransaktionen und der Deklaration von Steuern ist, lassen aufhorchen. «Allein die Neugestaltung dieser beiden Prozesse könnte rund 1500 Stellen in der Verwaltung für neuere, wertvolle Aufgaben freispielen. Zudem liessen sich jährlich bis zu 22 Millionen Bürgerstunden durch bessere Abläufe einsparen», meint Florian Frey, Partner bei Boston Consulting Group.

Es verwundert deshalb wenig, dass die Schweiz es im UN-Ranking zu E-Government nur auf Rang 15 schafft. «Wir hinken fast allen Industrieländern hinterher», kritisiert Frey. Viele Prozesse orientierten sich mehr an den Bedürfnissen der Verwaltung als an den Interessen der Bürger. Doch die Digitalisierung lässt sich nicht stoppen. Man ist dabei oder fällt zurück – und macht sich damit irgendwann überflüssig.

Digitalisierung: So machen es andere Länder

Dänemark

Dänemark setzt seit 2001 konsequent auf die Digitalisierung. 84 Prozent der Kommunikation zwischen Bürger und Verwaltung laufen heute online ab. Damit spart der dänische Staat jährlich 280 Millionen Franken.

 

Estland

In Estland sind über 100 staatliche Dienstleistungen durchgehend digitalisiert. E-Estonia bietet seit 2006 einen sicheren internetbasierten Datenaustausch zwischen staatlichen und privaten Informationssystemen. Die Authentifizierung erfolgt über eine digitale ID. Sie dient als Personalausweis.

 

Australien

Den Australiern hilft die virtuelle Online-Assistentin Alex beim Ausfüllen der Steuererklärung. Im ersten Jahr konnte das selbstlernende System rund 950000 Anfragen beantworten. Nur in 20 Prozent der Fälle beriet – nicht wahrnehmbar für die Bürger – ein Verwaltungs- mitarbeiter.

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Deborah Bischof, Redaktorin
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