Wer auf dem Weg in den Süden plötzlich Hunger bekommt, muss sich entscheiden: «Poulet im Chörbli» in Brunnen, «Poulet im Chörbli» in Sisikon oder «Poulet im Chörbli» in Attinghausen? Es wäre nicht verkehrt, die Axenstrasse in «Haxenstrasse» umzutaufen.

Wohl nirgendwo in der Schweiz ist die Dichte an Güggelibeizen grösser als zwischen Brunnen und Altdorf. Böse Zungen behaupten, es handle sich um den fettigsten Fleck auf der Landkarte.

Während der Fleischkonsum seit zwei Jahrzehnten stagniert, erfreut sich Poulet immer grösserer Beliebtheit. Vor 20 Jahren verzehrte eine Person rund neun Kilo Geflügel im Jahr, heute sind es über 14.

Bis zu 80 Millionen Tiere landen jährlich auf der Schlachtbank, schreibt die «Republik», die meisten davon lebten keinen Monat lang. Die Hühnermast ist ein durch und durch unromantisches Geschäft.

Man kann das verteufeln, nur haben sich die Urner vom Teufel noch nie bös beeindrucken lassen. Dass «Poulet im Chörbli» ausgerechnet in der widerspenstigen Urschweiz so gern aufgetischt wird, erstaunt kaum.

Mögen die Städter also ihren trockenen oder veganen Januar zelebrieren. Wir fahren – politisch unkorrekt mit Diesel – dem Vierwaldstättersee entlang nach Attinghausen zur «Pouletburg».

«Braucht ihr eine Karte?», fragt die freundliche Bedienung. «Wozu denn?» Wir bestellen den Klassiker: «Poulet im Chörbli» plus eine Extraportion Sauce.

Das Restaurant im Urner Talboden sieht mit seiner abgerundeten Fensterfront aus wie ein riesiges Oreo-Biskuit. Wie die Spezialität, die darin serviert wird, scheint auch der Ort auf sympathische Art aus der Zeit gefallen zu sein.

An der Einrichtung wurde seit den 1970er-Jahren kaum etwas verändert, die Farben Braun und Orange dominieren.

Fräuleins in schwarzen Schürzen schieben mit Güggeli vollbepackte Wägelchen durch die Tischreihen, aus den Boxen rieselt Ländler, bezahlt wird wie immer schon ausschliesslich bar. Nur die Schälchen mit dem Zitronenwasser zum Reinigen der fettigen Fingerkuppen wurden in den Coronajahren durch industriell hergestellte Frischetüchlein ersetzt.

«Braucht ihr eine Karte?», fragt die freundliche Bedienung. «Wozu denn?» Wir bestellen den Klassiker: «Poulet im Chörbli» plus eine Extraportion Sauce.

Kenner wissen: Die Sauce macht den Unterschied aus. Das Gegenüber behauptet, keiner hätte eine bessere angerührt als der 2012 verstorbene Timo Konietzka, legendärer FCZ-Trainer und bis zu seinem Tod Wirt im «Ochsen» in Brunnen.

Das Rezept für die scharfe Sauce in der «Pouletburg» ist ein sogenanntes Burggeheimnis und soll sich der Legende nach in einem Safe befinden.

Zum Jubiläum kommt das Fernsehen

Bekannt ist nur: Prominente schwören auf die Zaubertunke. Ex-Fussballer Kubilay Türkyilmaz liess sich davon inspirieren («Meine Sauce fürs Poulet ist besser als alle anderen»), der 2010 tödlich verunglückte Gotthard-Sänger Steve Lee kehrte in Attinghausen ein, ebenso Schönheitskönigin Christa Rigozzi.

Als die «Pouletburg» ihr Fünfzigstes feierte, berichtete die Sendung «Glanz & Gloria» des Schweizer Fernsehens in einem 13-minütigen Beitrag.

Wie zum Teufel isst man das? Mit den Händen, sagt das Gegenüber und rupft einen Schenkel aus seinem Exemplar. Das Fleisch ist saftig, auf den Punkt frittiert.

«Das Pendant zum Hahn im Korb ist das Poulet im Chörbli.»

Quelle: PASCAL MORA

Keine fünf Minuten dauert es, bis die halben Hähnchen auf dem Tisch stehen. Der würzige Duft gebratener Hühnerhaut steigt mir in die Nase, und ich frage mich: Wie zum Teufel isst man das? Mit den Händen, sagt das Gegenüber und rupft einen Schenkel aus seinem Exemplar.

Das Fleisch ist saftig, auf den Punkt frittiert. Man schmatzt und saugt und kaut und rülpst und richtet im Körbchen ein regelrechtes Schlachtfeld an.

Glücklich sieht dieses Güggeli am Ende definitiv nicht mehr aus –doch wir sind es. Unser schlechtes Gewissen: in Sauce ertränkt. Oder wie es ein Gast auf der Facebook-Seite der «Pouletburg» einmal ausgedrückt hat: «Wen kümmert das Poulet? Gebt mir einfach eine Tonne Sauce dazu.»

Neben der «Blick»-Titelseite mit dem Konterfei von Rockstar Steve Lee hängt ein gerahmtes Gedicht des Pfarrhelfers und Volksschriftstellers Josef Konrad Scheuber (1905–1990) aus Attinghausen: «Wer eintritt in dies Haus, find eine Stunde Glück! Wer wandert von ihm aus, denk oft ans Haus zurück! Doch ist nur der ein ganzer Mann, der senkrecht stehn und … zahlen kann!» Können wir: je 22 Franken für die Güggeli, 1.50 für die Extraportion Sauce und 18 Franken für Coca-Cola und Espressi – alles cash, versteht sich.

Beim Verlassen des überdimensionalen Oreo-Crackers schwärmt das Gegenüber von der US-Serie «Ozark», die auf Netflix läuft. Die Geschichte handelt von einem ziemlich bünzligen Buchhalter, der im Auftrag der mexikanischen Drogenmafia Geld wäscht.

Das «Poulet im Chörbli» sei definitiv ein Gericht der Nachkriegszeit. Zwar wurde Huhn auch davor serviert, dann aber aus dem Ofen oder aus dem Schmortopf und höchstens ein- bis zweimal im Jahr, da es sich um ein edles und teures Gericht handelte.

Was mich viel mehr interessiert, ist die vielleicht schweizerischste aller Fragen: Wer hats erfunden? Die Frage geht an Foodscout Dominik Flammer.

Der St. Galler antwortet mit einem «uralten» Spruch: «Das Pendant zum Hahn im Korb ist das Poulet im Chörbli.» Dann taucht er ins Archiv. Das «Poulet im Chörbli» sei definitiv ein Gericht der Nachkriegszeit.

Zwar wurde Huhn auch davor serviert, dann aber aus dem Ofen oder aus dem Schmortopf und höchstens ein- bis zweimal im Jahr, da es sich um ein edles und teures Gericht handelte; erst mit dem Aufkommen der Fritteuse und der Massentierhaltung begann der Siegeszug des halben Hähnchens im Korb.

Das Poulet, ein Schmaus

Vorbild war hierzulande die Schnellimbisskette Wienerwald des Österreichers Friedrich Jahn, der das Huhn ausgebeinelt, paniert und in Stücke portioniert servierte. Im Jahr 1962 gab es «Poulet im Chörbli» in mindestens drei Restaurants, weiss Flammer.

In der «Pouletburg» in Attinghausen, im «Bahnhöfli» in Frick AG und in der «Alten Pinte» in Hünibach BE. Vier Jahre später sprang Mövenpick auf den Zug, als Gründer Ueli Prager die Grüt Farm in Adliswil ZH kaufte.

Der clevere Geschäftsmann machte daraus einen Hype. Die Marge war sensationell. Es brauchte nur einen Tiefkühler und eine Fritteuse, man konnte auf Vorrat einkaufen, und es gab kaum Warenverlust. «Die Leute liebten es», sagt Dominik Flammer. In den 1960ern sei Poulet ein Sonntagsschmaus gewesen.

Der ehemalige Wirt des weissen Kreuzes in Seewen ist sich «fast sicher», dass sein Grossvater Anton zusammen mit seiner Frau Käthy das Gericht erfunden hat

Eine eigene Version der Geschichte findet sich auf der Homepage des inzwischen dauerhaft geschlossenen Gasthauses zum weissen Kreuz in Seewen.

Der ehemalige Wirt ist sich «fast sicher», dass sein Grossvater Anton, geboren 1905 in Goldau SZ, zusammen mit seiner Frau Käthy das Gericht erfunden hat. Anton hatte zwei Leidenschaften: Volksmusik – und Geflügelzucht.

In der Nähe seiner Beiz hielt er allerlei Federvieh. «Woche für Woche hiess es: die schönen Tiere in die Nachzucht, die ungeeigneten in die Pfanne

Richtig glücklich sieht das Huhn nicht mehr aus

Glücklich sieht dieses Güggeli am Ende definitiv nicht mehr aus.

Quelle: PASCAL MORA

Ebenfalls in Seewen beheimatet war die Firma Schlittler, die «Korbwaren und Dekorationssachen» herstellte. Jetzt könne man eins und eins zusammenzählen: «Irgendwann einmal, eventuell gar aus Jux, landete ein Güggel in einem Schlittler-Korb. Und schon war das ‹Poulet im Körbli› geboren.»

Mit schon fast vollem Bauch geht die Reise zurück Richtung Norden. In Sisikon verführt das gemäss «Tages-Anzeiger» berühmteste Schild der Axenstrasse («Ganzer Tag Poulet im Körbli») seit einer gefühlten Ewigkeit Reisende zum Boxenstopp mit Güggeli.

Biri Prabaskaran hat mit seiner Frau Regina das Restaurant Sternen vor fünf Jahren übernommen. Er serviert das Poulet an einer Sauce, die die Mutter seines Vorgängers im Jahr 1971 kreiert haben soll.

Was drin ist, verrät natürlich auch Prabaskaran nicht. Nach dem letzten Güggelimassaker beissen wir mit der Frage auf Granit. So erging es auch dem angehenden Gastronomen aus Lugano, der dem Wirt einst 15'000 Franken für das Rezept geboten hatte.

Prabaskaran habe nur gelacht und gesagt: «Auf keinen Fall, das bleibt auch die nächsten 50 Jahre im ‹Sternen›.»

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