Grinsend quetschen sich sechs Teenager auf ein schmales Sofa. Platz gäbe es ja genug im Klassenzimmer der Primarschule Tribschen in Luzern. Doch fast demonstrativ stellen die Sechstklässler das Selbstbewusstsein von Kindern zur Schau, die wissen: Wir finden auch auf engstem Raum noch Platz, denn wir sind schmal. Über das Thema Gewicht wollen sie heute mit der Journalistin sprechen. Kein Problem, sagen alle, cool, dazu falle ihnen jede Menge ein: Fettmops, Fast Food, Bulimie und Magersucht, Übergewicht und Aussenseitertum, zählen sie hastig auf. Positiv besetzte Begriffe wie Gesundheit, Wohlgefühl oder Sport kommen ihnen spontan nicht in den Sinn.

Die Figuren der 11- bis 14-Jährigen, die die Klasse 6c besuchen, geben objektiv betrachtet keinerlei Anlass zur Sorge. Rank und schlank sind sie. Ihren Körper finden fast alle okay, das jedenfalls sagen sie, nur die Jüngste nicht. Nina, 11, kreuzt ihre Arme über dem Bauch. «Ich fühle mich zu dick», flüstert das zierliche Mädchen. Ihre Freundinnen schauen betreten drein, geben schliesslich zu, trotz vermeintlicher Zufriedenheit bereits die eine oder andere Diät versucht zu haben. «Nur zur Vorbeugung», erklärt Elexa, 14.

Nur Buben haben dicke Freunde
Für Elexa wie für ihre Mitschüler steht fest: Sie haben nichts gegen pummelige Menschen, aber in der Haut der Dicken möchte niemand stecken. Nur die Buben nicken auf die Frage, ob sie korpulente Freunde haben. «Feste Kinder würden gerne was an ihrem Gewicht ändern, aber meistens können die Eltern ihnen nicht helfen, weil sie selber zu viel essen», sagt Paloma, 12. Und dann? Ratlosigkeit in der Runde. Therapie, Krankenhaus vielleicht, spekulieren sie. Ernst werden die Kinder, wenn sie beim Namen nennen, was sie an anderen wahrnehmen und für sich selber unbedingt vermeiden wollen.

Vor allem bei den Mädchen blitzen hinter allgemein formulierten Sätzen die eigenen Ängste auf. Davor, in den Augen anderer dick und damit unschön zu wirken, ebenso wie davor, bei der bewussten Gewichtskontrolle ertappt zu werden. Denn wer wider besseres Wissen krankhaft dünn sein will, zählt zur Gruppe der Bemitleidenswerten.

Schön gleich schlank
Schlankheitswahn bei Kindern hier und Adipositas-Debatte da - alles nur ein Medienhype? «Nein», sagt Binia Roth, leitende Psychologin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Baselland. «Unter Kindern ist das Gewicht ein wichtiges und stärker belastendes Thema als früher. Fachleute sprechen davon, dass es neu zur Entwicklungsaufgabe für Kinder geworden ist, zufrieden mit ihrem Körper zu sein.»

Das Durcheinander in den Köpfen vieler junger Menschen ist gross. Nahezu täglich bekommen sie medial um die Ohren gehauen, was sie im Alltag offenbar bedroht. Da sind sie, die Begriffe Essstörungen, Bewegungsmangel, ein verzerrtes Körperbild. Schon jedes fünfte Kind in der Schweiz soll nach Studien zu dick sein - masshalten wird dringend empfohlen. Handkehrum werden die Opfer von Magersucht immer jünger - selbst die Modewelt will dem Trend zum Magermodel Einhalt gebieten. Und doch gilt gerade dort: schön gleich schlank.

Was ist nun dick? Was mager? Was schön? Was nur noch krank? Selbst Normalgewichtige verlieren den klaren Bewertungsrahmen für ihren Körper. «Der Prozentsatz derer, die dünner sein wollen, liegt vor allem bei Mädchen weit über dem der tatsächlich Übergewichtigen», so Binia Roth. «Bis zu einem gewissen Grad ist es in unserer visuell geprägten Welt eine zwangsläufige Folge, dass sich Kinder an Schönheitsvorbildern orientieren, obwohl gezeigt wird, dass dieser Fokus negative Folgen haben kann.»

Heikel werde es, wenn die Stigmatisierung von Kindern, die nicht dem Ideal entsprechen, markant zunehme; bei adipösen Kindern sei das der Fall. «Das kann zu grossen bewussten oder unbewussten psychischen Belastungen führen - für Betroffene und für Kinder, die aus Angst versuchen, ihr Körperbild dem krankhaften System anzupassen», sagt Binia Roth.

Mädchen und Buben davor zu bewahren, in die Spirale von Adipositas oder Bulimie zu rutschen, ist eine schwierige Aufgabe. Viele Faktoren spielen mit, und nicht jedes Über- und Untergewicht muss automatisch mit Essstörungen verbunden sein.

Prävention - zu viel des Guten?
Die Komplexität verunsichert nicht nur Kinder, auch die Fachwelt ist sich nicht überall einig, sucht nach Zusammenhängen, Einflussfaktoren und wirkungsvollen Angeboten in Therapie und Prävention. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete 2006 eine Charta gegen die «Fettepidemie», die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz lancierte heuer eine Millionen teure Bevölkerungskampagne zum Thema Übergewicht. Beide haben Kinder und Jugendliche im Blick.

Vorbeugen wollen vermehrt auch Schulen mit Bewegungsprogrammen und Ernährungs-Projektwochen. Die Menge all dieser Präventionsbemühungen wird nicht nur positiv verfolgt. Christoph Rutishauser, Leiter der Sprechstunde Essstörungen im Zürcher Kinderspital, warnte schon 2006 im Beobachter, dass die direkte präventive Aufklärung über die Gefahren von Essstörungen bei jungen Mädchen eher das Gegenteil bewirke, sie also erst auf die Idee bringe, sie könnten zu dick sein, müssten abnehmen. Auch setzten die dauerhaften Debatten Kinder und Eltern unter Druck: Letztere verfielen in rigides Ess-Straf-Verhalten, statt ihren Kindern gesunde Ernährung vorzuleben und damit indirekt für ein normales Essverhalten zu sorgen.

Von den Grossen alleingelassen
Auch den sechs der 6c geht die schulische Aufklärung eher auf die Nerven. Sämi, 12, rattert herunter, was er über Ernährungstabellen gelernt hat. «Daheim ist meine Mutter fürs Essen zuständig», sagt er gelangweilt. «Die achtet schon darauf.» Auch Flavio, 13, ist sauer: «Erst sagt man uns in der Werbung, etwas sei megafein, dann lernt man in der Schule genau das Gegenteil.» Jetzt hat die Primarschule Tribschen auch noch in die Schulordnung geschrieben, dass das Znüni künftig gesund sein soll: kein Süssgetränk, dafür mehr Obst. «Und im Pausenkiosk gibts dann nur verschrumpelte Äpfel und Süsses», bemerkt Claude, 12, kopfschüttelnd.

Kinder sollen Sport treiben, auf gesunde Ernährung achten, sich Süsses verkneifen, vernünftig sein und die Werbung durchschauen. Alles, um nicht zu dünn und nicht zu dick zu werden. Für Nina zu viel der Verantwortung: «Alles wird Kindern in die Schuhe geschoben. Als wären wir schuld, wenn wir ab- oder zunehmen. Die Verursacher sind die Eltern. Sie müssen uns zeigen, was richtig oder falsch ist, wir können das nicht immer beurteilen.»

Diese Aussage hat die Psychologin Binia Roth wissenschaftlich belegt. Im Rahmen einer Nationalfonds-Studie hat die Basler Expertin gezeigt, dass eine erfolgreiche Adipositas-Therapie für Kinder primär die Eltern in die Verantwortung nehmen muss. «Das ist nicht leicht, und manche brauchen Unterstützung», so Roth.

Tatsächlich haben viele Eltern selber Mühe mit ihrem Körperbild. Sie tun sich schwer, dem allgemeinen Schönheitsideal ein familiäres entgegenzusetzen, das den Kindern selbstbewusst vermittelt: Wir haben zwar Unzulänglichkeiten, können aber damit umgehen. Die eigenen Probleme entbinden Eltern nicht von der Verantwortung, ihren Kindern Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, sei dies bei der Ernährung, im Umgang mit dem Körper oder mit Hänseleien. «Die wirken vielleicht nicht sofort», meint Psychologin Binia Roth, «aber die Chance, dass Mädchen und Buben später darauf zurückgreifen, ist gross.»

Das rät die Psychologin

Was können Sie als Mutter oder Vater tun, um Ihren Kindern einen gesunden Umgang mit dem Thema Gewicht beizubringen? Binia Roth, leitende Psychologin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Baselland, rät:

  • Leben Sie den Kindern vor, dass Sie mit Ihrem Körper liebevoll umgehen, auch wenn nicht alles perfekt daran ist. Wenn Sie abnehmen wollen, dann tun Sie es so, dass es vom Kind nicht als Pflicht, sondern als Freiwilligkeit wahrgenommen wird. Reden Sie über Ihre Motivation.
  • Loben Sie das Kind für seine Körpermerkmale, aber auch für die Fähigkeiten, die es hat. Machen Sie ihm klar: Das Gewicht ist nur ein Teil des Aussehens, das Aussehen nur ein Teil der ganzen Person.
  • Vermeiden Sie abwertende Bemerkungen über den Körper des Kindes, auch wenn sie ironisch gemeint sind. Kinder verstehen das gerade in der Pubertät garantiert falsch.
  • Entwickeln Sie eine gesunde Haltung gegenüber Ernährung und Bewegung. Lassen Sie Schwächen zu. Seien Sie selber fehlbar. «Heute gönnen wir uns»-Ausnahmen und ein gelegentliches «Ich bin heute zu faul zum Joggen» nimmt Druck von Kindern.
  • Vermeiden Sie restriktive Essregeln und Radikaldiäten. Sie sind kontraproduktiv.
  • Der Body-Mass-Index (BMI) für Erwachsene ist nicht übertragbar auf Kinder. Für sie gibt es einen speziellen Referenzrahmen, zu finden im Internet unter www.a-g-a.de Einen BMI-Rechner für Kinder gibt es unter www.kinderaerzteimnetz.de

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