Frage einer Leserin: Meine Schwiegertochter hat gerade das erste Kind bekommen. Ich denke, dass es ihr nicht gut geht. Soll ich sie darauf ansprechen?

Ja, unbedingt. Aber es braucht ein feinfühliges Vorgehen in dieser sensiblen Familienphase. Beziehen Sie Ihren Sohn mit ein, beschreiben Sie behutsam, was Sie wahrnehmen. Und fragen Sie nach, wie es die jungen Eltern erleben. Eventuell ist es nur der rasch vorübergehende sogenannte Babyblues, wie die Stimmungsschwankungen der ersten Zeit nach der Entbindung genannt werden.

Vielleicht handelt es sich aber auch um eine beginnende postpartale Depression (auch als postnatal bezeichnet), die für die betroffenen Eltern mit viel Leid verbunden ist. Endlich ist das ersehnte Kind da, die Geburt überstanden, die Freude in der Familie riesig, und alle Augen sind auf das junge Elternpaar und sein «vollkommenes Glück» gerichtet.

Aber: Rund 15 Prozent der Frauen stürzt das freudige Ereignis unerwartet in eine grosse seelische Krise. Sie sind überrumpelt von verwirrend düsteren Gefühlen und Gedanken. Häufig zeigen sich zusätzlich psychosomatische Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Panikattacken Panikanfälle Ein dunkles Leben mit der Angst im Nacken . Die Betroffenen fühlen sich extrem erschöpft und verunsichert und haben Mühe, ihr Kind und ihre neue Rolle als liebende Mutter anzunehmen.

Doch alle rundherum erwarten das Gegenteil. Und Gefühle von Ablehnung gegenüber einem Neugeborenen sind ein Tabu. Deshalb erhalten Mütter – übrigens gibt es auch betroffene Väter – tapfer die Fassade aufrecht und versuchen verzweifelt, so zu tun als ob.

Jahrelang Schuldgefühle

Fatalerweise bewerten die Betroffenen selber ihre Erkrankung als menschliches Versagen – und das Verheimlichen führt dann zu totaler Isolation und Überforderung. Viele Mütter haben noch jahrelang Schuldgefühle, weil sie glauben, dass sie den Bedürfnissen des Neugeborenen nicht gerecht geworden seien. Jede spätere kleine Verhaltensauffälligkeit des Kindes aktiviert erneut die Befürchtung, in dieser ersten Phase psychischen Schaden angerichtet zu haben.

Weil es nicht immer einfach ist, eine postpartale Depression von aussen zu erkennen, braucht es im Umfeld Menschen, die nicht nur positive Zuwendung zeigen, sondern auch achtsame Antennen haben für allfälliges Leid und Belastung. Und es gilt zu akzeptieren, dass eine Depression jemanden genauso lahmlegen kann wie eine andere schwere Erkrankung.

Eine erste Einschätzung kann der Fragebogen EPDS geben, der über die Website postpartale-depression.ch ausgefüllt werden kann. Wenn das Ergebnis auf eine Erkrankung hindeutet, sollten Hebamme oder Ärztin zugezogen werden, um abzuklären, ob eine Behandlung notwendig ist.

Hilfe, ohne sich entmündigt zu fühlen

So oder so ist ein gut funktionierendes Unterstützungssystem wertvoll, damit alle die Krankheit unbeschadet überstehen. Dazu braucht der Säugling in erster Linie Fürsorge und zuverlässige körperliche und emotionale Nähe zu seinen Bezugspersonen. Je nachdem, wie stark die Erkrankung der Mutter das verhindert, können dem Vater andere nahe Erwachsene kompensierend helfen, ohne dabei die Mutter auszubooten. So kann das Kind Grundvertrauen in menschliche Beziehungen und in die Welt aufbauen.

Für die Mutter verliert die Erkrankung an Schrecken, wenn sie anerkannt wird und man darüber reden darf. So kann sie Unterstützung annehmen, ohne sich dadurch entmündigt zu fühlen. Eine enge Beziehung zum Kind kann durchaus zeitverzögert entstehen, die enorme neuronale Formbarkeit des kindlichen Gehirns macht das möglich.

Unter Umständen braucht die Mutter eine professionelle Behandlung mit Psychotherapie Psychotherapie Des einen Freud... und allenfalls Medikamenten, um die Symptome zu mildern.

Tragen Sie mit!

Auch für die Väter kann diese Situation belastend sein. Sie haben plötzlich mehr Verantwortung als erwartet und sind in der Beziehung zu ihrer Partnerin vielleicht verunsichert oder beunruhigt. Auch für sie ist es wichtig, dass sie darüber reden und Unterstützung erhalten können.

Wenn eine junge Familie durch eine Depression belastet ist, ist ein achtsames und tatkräftiges Umfeld Gold wert. Die erkrankte Mutter sollte ohne Druck und Erwartungen so viel beitragen können, wie ihr im Moment möglich ist. Und sie sollte darauf vertrauen dürfen, dass Familie und Freunde mittragen, ohne sie zu verurteilen oder zu bevormunden.

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