Beobachter: Sie begutachten Kinder und Jugendliche, die straffällig geworden sind oder deren Eltern sich im Streit trennen. Sind Kinder nach einer Trennung häufiger verhaltensauffällig?
Volker Schmidt: Nein. Man darf sich von den Berichten über Einzelfälle nicht blenden lassen. Der Anteil verhaltensauffälliger Kinder ist nicht gestiegen. Er liegt im deutschsprachigen Raum bei 10 bis 15 Prozent. Die Jugendkriminalität ist in der Schweiz seit Jahren rückläufig. Einzelne Fälle können aber sehr komplex sein. Viele betroffene Kinder sind mehrfach belastet, stammen etwa aus zerrütteten Familien, in denen es Gewalt gibt. Es trifft zu, dass straffällige Jugendliche eher aus solchen Familien stammen.

Beobachter: Seit drei Jahren gilt bei Trennung und Scheidung automatisch das gemeinsame Sorgerecht. Geht es Scheidungskindern nun besser?
Schmidt: Es wäre naiv zu denken, dass sich mit einer Gesetzesänderung von heute auf morgen auch die Familienstrukturen und Elternrollen ändern. Ziel des neuen Gesetzes war aber auch, einen Gesinnungswandel anzustossen. Beide Elternteile sollen die gleiche Verantwortung wahrnehmen für ihre Kinder. Dann entwickeln sich die Kinder erwiesenermassen besser. Das gemeinsame Sorgerecht ist deshalb vor allem eine grosse Chance für die Kinder.

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Volker Schmidt, 43, ist forensischer Kinder- und Jugendpsychiater. Er ist leitender Arzt beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Solothurn und als Gutachter und Therapeut tätig. Volker Schmidt ist verheiratet und Vater von drei Kindern. (Foto: Raimo Lindner)

Volker Schmidt
Quelle: Raimo Lindner

Beobachter: Was bringt es, wenn sich zerstrittene Eltern dauernd absprechen müssen, obwohl sie dazu nicht mehr fähig sind?
Schmidt: Natürlich birgt das gemeinsame Sorgerecht ein gewisses Konfliktpotenzial, weil man wichtige Entscheidungen auch nach einer Trennung gemeinsam treffen muss. Die meisten Eltern schaffen das aber. Die hochstrittigen Fälle sind eine Minderheit von fünf bis zehn Prozent. Und diese Eltern streiten sich sowieso, ob mit oder ohne gemeinsame Sorge. Ganz wichtig ist, dass das gemeinsame Sorgerecht nicht erst mit der Trennung beginnt, sondern mit der Geburt des Kindes. Das ist ein Denkfehler, den manche Eltern machen.

Beobachter: Inwiefern?
Schmidt: Viele Männer fühlen sich auch heute noch nur als ganzer Mann, wenn sie 100 Prozent arbeiten. Da ist ein Umdenken gefragt, sonst bleibt das gemeinsame Sorgerecht eine Worthülse. Gute Entscheidungen kann man nur treffen, wenn man die Kinder im Alltag mitbetreut und eine Beziehung zu ihnen hat. Wenn man die Verantwortung schon vor der Trennung geteilt hat, hilft das, als Eltern auch danach gut zu funktionieren. Heute dominiert aber immer noch das traditionelle Familienmodell.

Beobachter: Woran liegt das?
Schmidt: Das hat unter anderem mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun. Wenn sich das ändern soll, brauchen wir zum Beispiel gleichen Lohn für gleiche Arbeit oder bezahlbare externe Kinderbetreuungsangebote.

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Was bedeutet «gemeinsames Sorgerecht»?
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Beobachter: Können Sie Mütter verstehen, die sich querstellen, wenn nach der Trennung der zuvor quasi abwesende Vater plötzlich überall mitbestimmen will?
Schmidt: Ja, das kann ich. Wenn man als Mutter die Hauptverantwortung für die Erziehung trägt, ist es natürlich schwierig, die «Geschäftsleitung» plötzlich teilen zu müssen. Doch diese Mütter sollten auch bedenken, dass es eine grosse Entlastung sein kann, die Verantwortung auf vier Schultern zu verteilen.

Beobachter: Haben Väter nicht oft schon vor der Trennung gar keine Chance gegen gluckenhafte Mütter, die die Kinder unter ihre Fittiche nehmen?
Schmidt: Bei einer traditionellen Rollenverteilung besteht diese Gefahr natürlich. Daher ist das Modell auch schlecht geeignet für eine Scheidung. Wenn die gemeinsame Sorge vorher nicht gelebt wurde, wie soll es dann nachher unter erschwerten Bedingungen funktionieren? Grundsätzlich kann man aber weder der einen noch der anderen Seite die Schuld geben. Es gibt Mütter, die Väter ausgrenzen. Es gibt aber auch Väter, die den Müttern das Leben schwer machen. Zum Streiten gehören immer zwei.

«Dank dem gemeinsamen Sorgerecht sind Väter heute motivierter, Verantwortung zu übernehmen und sich einzubringen.»

Volker Schmidt, forensischer Kinder- und Jugendpsychiater.

Beobachter: Man kann das gemeinsame Sorgerecht ja auch verhindern, indem man absichtlich einen Dauerkonflikt schürt. Gibt es das?
Schmidt: Ich erlebe kaum, dass eine Partei den Streit absichtlich auf die Spitze treibt, nur um das gemeinsame Sorgerecht zu torpedieren. Die Konfliktdynamik ist meist viel komplexer, man schaukelt sich gegenseitig hoch. Es gibt wenige Fälle, bei denen zwischen den Eltern ein anhaltender und erbitterter Kampf um jeden Preis herrscht. In solchen Ausnahmefällen kann die alleinige Sorge unter Umständen besser sein für das Kind.

Beobachter: Kommt es dank dem gemeinsamen Sorgerecht seltener zu Kontaktabbrüchen zwischen Vater und Kind?
Schmidt: Die gemeinsame Sorge bietet laut Studien keine Garantie für bessere Kontakte. Auch die Zahlungsmoral beim Unterhalt steigt nicht. Aber im gemeinsamen Sorgerecht steckt grosses Potenzial. Dank ihm sind Väter heute motivierter, Verantwortung zu übernehmen und sich einzubringen. Das führt zu besseren Beziehungen zwischen Vätern und Kindern. Und das wiederum mündet hoffentlich später in weniger Kontaktabbrüchen.

Beobachter: Wie schlimm ist ein Kontaktabbruch für ein Kind?
Schmidt: Das ist ganz unterschiedlich. Wenn ein Kind eigentlich Kontakt haben möchte, aber ein Elternteil den anderen schlechtredet, ist es sehr schädlich. Es ist äusserst belastend für ein Kind, wenn es glaubt, es stamme von einem bösen Menschen ab. Das schadet dem Selbstwertgefühl enorm und stört die Identitätsentwicklung. Zudem weiss man: Beziehungen die einmal zerstört wurden, können später fast nicht mehr repariert werden. Anderseits gibt es auch Fälle, in denen es besser für das Kind ist, keinen oder nur begleiteten Kontakt zu einem Elternteil zu haben, etwa weil es von ihm vernachlässigt oder misshandelt wird.

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Beobachter: Wie trennt man sich denn am besten, ohne den Kindern zu schaden?
Schmidt: Am schlimmsten ist es, wenn Eltern Konflikte offen und destruktiv austragen (siehe Artikel bei Guider oben). Sie sollten versuchen, sich in das Kind hineinzuversetzen, seine Bedürfnisse in den Fokus zu rücken. Zudem sollten sie die gemeinsame Betreuung der Kinder verlässlich regeln und auch hier die Wünsche der Kinder einbeziehen. Eltern sollten sich gegenseitig respektieren und über wichtige Belange informieren. Kinder sollen frei und unbeschwert von Erlebnissen beim anderen Elternteil erzählen dürfen. Es ist zudem wichtig, dass sie weiterhin gut integriert sind in der Schule, im Freundeskreis, im Sportklub und dass sie Kontakt haben zu wichtigen Bezugspersonen. Keinesfalls sollte man die Erziehung schleifen lassen. Das kommt manchmal vor aus Schuldgefühlen heraus oder aus Angst, das Kind zu verlieren. Ausbaden muss es dann der andere Elternteil.

Beobachter: Mit der Einführung des gemeinsamen Sorgerechts werden auch Wohn- und Betreuungsmodelle neu diskutiert. Was ist besser fürs Kind: wenn es bei einem Elternteil lebt oder wenn es abwechselt?
Schmidt: Das kann man nicht allgemein sagen. Manche Studien deuten darauf hin, dass die alternierende Obhut das beste Modell ist aus Kindersicht. Das Kind wohnt dann also abwechselnd bei Mama oder Papa. Andere Studien kommen zum Schluss, dass das nur funktioniert, wenn die Eltern supergut miteinander klarkommen. Letztlich hängt es natürlich auch stark davon ab, wo die Kinder verwurzelt sind, wo sie ihr soziales Netz haben und was sie selber möchten. Auch die Entfernung zwischen den Wohnorten spielt eine Rolle – und die Möglichkeiten von Mutter und Vater, das Kind persönlich zu betreuen. Grundsätzlich erfordert die alternierende Obhut aber viel Organisationstalent und Kommunikation zwischen den Eltern. Was das Beste ist für das Kind, müssen sie im Einzelfall klären.

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