Versicherung bodigt kleine Sportvereine
Vereine, die Mitarbeitern einen Lohn zahlen, müssen sich für viel Geld gegen Berufsunfall versichern. Das kann sie Kopf und Kragen kosten.
Veröffentlicht am 4. Mai 2018 - 11:10 Uhr,
aktualisiert am 10. Mai 2018 - 10:25 Uhr
Der Vereinspräsident fiel fast vom Stuhl, als er die Prämienrechnung der Unfallversicherung las: 4685 Franken soll der Zürcher FC Wiedikon jährlich zahlen. «Obwohl wir als kleiner Amateurklub keine Spieler bezahlen. Nur einige Trainer und Betreuer erhalten ein Entgelt», sagt Roger Ansorg. Laut Gesetz gelten alle Vereine , die Mitglieder für ihre Aktivitäten entschädigen, als Arbeitgeber. Wenn mindestens einer mehr als 2300 Franken pro Jahr erhält, muss der Verein alle auf der Lohnliste gegen Unfälle versichern. Als Lohn gelten auch Spielerprämien oder Beiträge des Förderprogramms Jugend+Sport.
Bei vielen Vereinen war man sich darüber lange nicht im Klaren. Doch seit 2016 schaut die Suva, die grösste Unfallversicherung, genauer hin, wenn Sportunfälle als Nichtberufsunfälle gemeldet werden. Denn wenn ein Verein versicherungstechnisch in der Pflicht steht, ist die Suva gar nicht zuständig. Pro Jahr lasse sich so ein «mittlerer einstelliger Millionenbetrag» sparen, sagt Suva-Sprecher Serkan Isik. Das betrifft vor allem die risikoträchtigen Sparten Fussball, Handball und Eishockey.
«Es ist nicht nachvollziehbar, warum ein Betreuer, der Wädli massiert, ein so hohes Unfallrisiko haben soll.»
Roger Ansorg, Präsident FC Wiedikon
Die Versicherungspflicht stellt viele Klubs vor existenzielle Probleme. 4700 Franken, das entspricht beim FC Wiedikon fast 10 Prozent der gesamten Lohnsumme. «Wucher», sagt Präsident Ansorg. «Es ist nicht nachvollziehbar, warum ein Betreuer, der Wädli massiert, ein so hohes Unfallrisiko haben soll.»
Nur: Ein besseres Versicherungsangebot war nicht zu kriegen. Auf fünf Offertanfragen erhielt der Stadtzürcher Quartierklub fünf Absagen. Tenor: «Für dieses Risiko geben wir kein Angebot ab», «wir zählen Trainer zu den nicht versicherbaren Risiken», «es handelt sich um ein unerwünschtes Risiko». Nachfragen bei Sportverbänden bestätigen: Vielen Klubs in der Schweiz geht es ähnlich. Sie müssen sich versichern – können es faktisch aber nicht.
Nach mindestens drei Absagen springt die sogenannte Ersatzkasse ein. Das ist eine Stiftung der Privatversicherer, die als Auffangeinrichtung die Kosten für unversicherte Unfälle trägt. Sie ist es auch, die das Obligatorium durchsetzt: Wenn ein Arbeitgeber keine Versicherung findet, teilt ihm die Ersatzkasse zwangsweise eine zu. Und mit deren Prämienkonditionen muss sich der Klub schliesslich abfinden. So wie der FC Wiedikon.
Richtig teuer für einen Verein wird es aber, wenn die Ersatzkasse sogenannte Ersatzprämien erhebt, um ihre Kosten zu decken. So kann sie bis zu fünf Jahre rückwirkend Prämien einkassieren. Eine Rechnung dieser Art flatterte vor drei Jahren zum Beispiel dem Baselbieter FC Aesch ins Haus: Über 76'000 Franken sollte der Verein zahlen. «Wir hätten den Laden dichtmachen müssen», sagt Vereinspräsident Andrea Marescalchi. Der Klub wehrte sich bis vors Bundesverwaltungsgericht – mit Erfolg.
Der FC Aesch hatte sich vergeblich um eine Versicherung bemüht. Die Ersatzkasse wies ihm eine Gesellschaft zu und erhob Ersatzprämien für die letzten fünf Jahre – ohne Begründung zu einem hohen Satz von fast 27 Prozent der Lohnsumme.
Erst als der Klub vor Gericht zog, stellte sich heraus, wie es dazu gekommen war: durch Scott Chipperfield. Die FC-Basel-Legende stand zu jener Zeit beim FC Aesch als Assistenztrainer auf der Lohnliste. Während der Verein nach einem Versicherer suchte, zog sich Chipperfield einen Innenbandriss zu. Die Ersatzkasse taxierte den Klub daraufhin wie einen Profifussballklub ein – und wandte den hohen Prämiensatz auf alle an, vom Platzwart bis zum Sekretär. Dabei berief sich die Kasse auf ihr Reglement, wonach man vom höchsten Risiko ausgehe; eine Abstufung nach Tätigkeit sei nicht vorgesehen. Letzten Juli pfiff das Gericht die Ersatzkasse zurück. Sie muss eine neue, transparente und konkret anfechtbare Verfügung erlassen.
Die Kasse taxierte den FC Aesch wie einen Profiklub ein – und wandte den hohen Prämiensatz auf alle an, vom Platzwart bis zum Sekretär.
Ähnlich erging es dem Berner FC Lerchenfeld. Der Amateurklub sollte rund 26'000 Franken Ersatzprämien bezahlen, nachdem er sich erfolglos um eine Versicherung bemüht hatte. Unfälle gab es keine. Der Prämiensatz lag bei rund 10 Prozent der Lohnsumme und war genauso intransparent wie beim FC Aesch. Auch dem Berner Klub gab das Bundesverwaltungsgericht letzten Sommer recht.
Wie viel Geld die beiden Vereine letztlich zahlen müssen, ist offen. Seit den Urteilen herrscht Funkstille. Bei der Ersatzkasse wollte dem Beobachter niemand Auskunft geben. Fest steht: Bisher holte sie bei den Ersatzprämien das Maximum heraus. Die Versicherungen, die die Stiftung tragen, haben ein Interesse daran; denn sie müssen in die Bresche springen, wenn die Ersatzkasse ihre Kosten nicht decken kann. Wenn es bei diesem Vorgehen bleibt, könnte das viele Vereine die Existenz kosten.
Hinter den Kulissen bemühen sich die Sportverbände um eine vernünftige Lösung. Der Innerschweizerische Fussballverband etwa versucht, für die Amateurliga einen Versicherer für einen Rahmenvertrag zu gewinnen. «Wir hoffen, über die Menge zu günstigeren Prämien zu kommen», sagt Verbandspräsident Urs Dickerhof. «Ich kenne Klubs, die Sätze von bis zu 40 Prozent der Lohnsumme bezahlen.»
Auch der Dachverband Swiss Olympic kennt das Problem. «Wir suchen das Gespräch mit der Branche. Da die privaten Versicherer kein Interesse haben, Sportvereine zu versichern, wäre es sinnvoll, wenn die Suva das übernähme. Das bräuchte aber eine Gesetzesänderung», sagt Sprecher Alexander Wäfler.
Der Schweizerische Versicherungsverband prüft ebenfalls Lösungen für Sportvereine, insbesondere für Fussballklubs. Die Ausgangslage sei aber komplex.
Für den FC Wiedikon indes kommt all das schon zu spät. Über dem kleinen Verein schwebt das Damoklesschwert hoher Ersatzprämien. «Für mich ist schlicht unbegreiflich, wie diese Gesetzgebung zusammengeht mit der Sportförderung, die sich Bund und Versicherungen sonst so gern auf die Fahne schreiben», sagt Vereinspräsident Roger Ansorg.
Bei der Unfallversicherung (UVG) gibt es kein Mindest- oder Höchstalter für Angestellte. Alle Versicherte profitieren, wenn auch die rechtliche Definition eines Unfalls manchmal für Unklarheiten sorgt. Beobachter-Mitglieder erfahren, in welchen Fällen die Unfallversicherung zahlt, welche Leistungen sie beinhaltet und wie etwa Teilzeitangestellte versichert sind, die bei mehreren Arbeitgebern tätig sind.