Aufgezeichnet von Jasmine Helbling:

Eine WG mit 94? Das hätte ich mir früher nicht vorstellen können. Aber wissen Sie was? Es ist grossartig! Seit drei Jahren führe ich ein Airbnb in meiner Wohnung – seither ist immer etwas los. Letzte Woche sassen wir zu fünft beim Znacht: eine Ukrainerin, ein Italiener, ein Tessiner, ein Berner und ich. Zu meinen Spaghetti kochte einer eine prima Tomatensauce, dann diskutierten wir auf Englisch. Alle waren zufrieden.

Im Jahr 2018 ist meine Frau gestorben. Über 60 Jahre waren wir verheiratet, vier Kinder haben wir grossgezogen. Ohne Steffi war mein Zuhause schrecklich leer. Was will ich mit sechseinhalb Zimmern? Da fiel mir Airbnb ein – ich hatte davon gelesen, gehört, was weiss ich. Ich klickte mich durch Formulare, und schwupp war ich ein Host. Die Gäste kamen wie verrückt; aus China, Indien, überallher. 29 Nationen in einem Jahr!

Stören tun mich die Mitbewohnerinnen nie. Tagsüber sind sie unterwegs oder arbeiten in ihren Zimmern. Abends kochen sie und schwatzen miteinander. Ich halte mich meist zurück. Aber manchmal erzählt mir jemand von sich. Oder will was über mich erfahren. Ein, zwei Geschichten habe ich ja auch auf Lager.

Mit 20 wollte ich nur eines: meine Steffi heiraten. Aber weil ich kein Geld hatte, musste ich zuerst arbeiten. Ich lernte Französisch in Paris, Englisch in London und wurde Kaufmann. Anfangs handelte ich mit Fischen, später mit Maschinen. Über 30 Jahre war ich Direktor einer Handelsfirma für Textilmaschinen und Absauganlagen. Meine Frau blieb bei den Kindern, heute würde man das anders machen.

Plötzlich Reiseleiter

Reisen war schon immer meine Leidenschaft. Nach der Pensionierung, mit 63, spazierte ich in ein Reisebüro, wollte da arbeiten. Ich hatte zwar keine Ausbildung als Reiseleiter, aber genug Erfahrung im Managen und Organisieren. Ich konnte drei Sprachen und «schwafle» – das hat gereicht. Nach der Pension gings bei mir also erst richtig los!

Die erste Reise führte ins Elsass zu den Spargeln. Die Leute fandens gut, ich sowieso, also machte ich weiter. Vier- oder fünfmal im Jahr, quer über den Globus. Von Island über Nordafrika in die Sahara und nach Südafrika. Vom Nordkap in die damalige Sowjetunion, nach China, in den Nahen Osten und die USA. So kamen über 70 Reisen zusammen. Das war die spannendste Zeit meines Lebens.

Als Reiseleiter lernt man, flexibel zu sein. Einmal ist uns in der usbekischen Wüste – peng – ein Reifen geplatzt. Stunden haben wir auf einen Ersatzbus gewartet – und als wir dann endlich drinsassen, platzte der nächste Pneu. In Finnland ist mal eine Achse beim Bus gebrochen, in China wurde ich ausgeraubt. Gschäch nüt Schlimmers!

Tessin, Spanien, Türkei

Nach zwölf Jahren war Schluss. Das Reisebüro stellte auf einheimische Guides um, und ich dachte: Na gut, mit 75 kann man ja auch mal aufhören. Mit der Arbeit, nicht mit dem Reisen. Mit 80 lief ich den Jakobsweg Pilgern auf dem Jakobsweg Er ist dann mal weg in zwei Etappen. Vier Wochen in Frankreich, vier in Spanien. Geschlafen habe ich in Herbergen am Weg. Wennschon, dennschon! Unterwegs traf ich einen jungen Mann, der nach vier Tagen aufgab. 54 war der – jaja, das ist aus meiner Sicht jung.

In der Coronazeit war Pause, jetzt will ich aber jeden Monat eine Reise machen. Das Beste daran: Ich muss nicht selber kochen. Im März war ich in Dubai, im April im Tessin, im Mai in Spanien, und diesen Monat gehts in die Türkei. Reich bin ich nicht. Aber ich habe genug Geld und bin gesund. Wäre ja schön blöd, wenn ich das nicht nutzen würde. 

Vor ein paar Monaten habe ich meinen eigenen Nachruf geschrieben. Da steht drin, dass nach meinem Tod niemand trauern soll – ich führe ein privilegiertes Leben. Das sollen alle wissen; die vier Kinder, acht Enkel und elf Urenkel. Ans Sterben denke ich aber selten, dafür habe ich gar keine Zeit. Grad gestern rief mich ein ehemaliger Airbnb-Gast an und wollte ein Zimmer. Keine Chance, bis Oktober bin ich ausgebucht.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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