Am 14. Juni 2019 gingen eine halbe Million Menschen für Frauenrechte auf die Strasse. Die enorme Mobilisierung schlug bis in den Wahlherbst durch – noch nie war der Frauenanteil im Parlament mit fast 40 Prozent so gross wie heute.

Erst seit 50 Jahren können Frauen überhaupt abstimmen, seit 40 Jahren ist die Gleichstellung in der Bundesverfassung verankert. Just im April 2021 beschloss der Bundesrat die erste nationale Gleichstellungsstrategie. Sie fokussiert auf Erwerbsleben, Gewaltprävention, Bekämpfung von Diskriminierung sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

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Die formelle Gleichstellung ist weit fortgeschritten. Trotzdem hapert es bei der Umsetzung. Ein Überblick, was sich seit dem Frauenstreik getan hat – und was nicht.

 

Überblick

Was sind die Fakten? Was läuft politisch? Wie können Betroffene sich wehren?

Sexuelle Gewalt


Fakten
Jede fünfte Frau in der Schweiz erlebte mindestens einmal in ihrem Leben ungewollte sexuelle Handlungen, zeigt eine repräsentative Studie des Forschungsinstituts GfS Bern. Jede achte hat Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. 59 Prozent werden unerwünscht berührt, geküsst, umarmt. Ein Drittel erlebt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Sexuelle Belästigung Am Arbeitsplatz bedrängt – was tun? . Solches Verhalten ist verboten – trotzdem zeigt eine Untersuchung, dass bei sexuellen Übergriffen das geltende Recht mitunter selbst eine Strafverfolgung verunmöglicht.


Das läuft politisch
In den letzten zwei Jahren hat sich eine intensive Debatte zum Sexualstrafrecht Kritik an Vorschlägen des Ständerats «Als wäre eine Vergewaltigung ohne Zwang nicht ‹echt›» entwickelt – sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person sollen angemessen bestraft werden. Gefordert wird deshalb eine Neudefinition des Vergewaltigungsbegriffs. Derzeit überarbeitet das Parlament das Sexualstrafrecht. Die Rechtskommission des Ständerats hat im Winter 2021 einen Vorschlag in die Vernehmlassung geschickt. Die sogenannte Zustimmungslösung (nur Ja heisst Ja), die nicht im Vorschlag vorgesehen ist, erfährt zurzeit wachsende Unterstützung, auch aus konservativen Kantonen und etwa von den FDP-Frauen.


Das können Betroffene tun
Wenn Sie Opfer einer sexuellen Gewalttat geworden sind, sollten Sie sich zur Beweissicherung möglichst rasch medizinisch untersuchen lassen und Belege des Übergriffs sammeln. Lassen Sie sich von einer Opferhilfestelle beraten. Die Expertinnen geben Ihnen alle wichtigen Informationen zu einer allfälligen Anzeige bei der Polizei, dem weiteren Ablauf und Ihren Rechten.

Bei sexueller oder sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz helfen kantonale Schlichtungsbehörden nach Gleichstellungsgesetz, Fachstellen sowie Plattformen wie Belaestigt.ch. Sprechen Sie mit Vorgesetzten oder Personalverantwortlichen. Sobald diese Kenntnis vom Vorfall haben, sind sie zu einer Intervention verpflichtet.

Lohngleichheit


Fakten
Gleicher Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit: Alles andere verstösst gegen die Verfassung. Was theoretisch gut klingt, ist praktisch nicht umgesetzt. Bereits beim Berufseinstieg beträgt der unerklärte Lohnunterschied bei gleichen Voraussetzungen rund 7 Prozent. Geht man von den Durchschnittslöhnen der Gesamtwirtschaft aus, erhalten Frauen 19 Prozent weniger Lohn als Männer. Gut die Hälfte dieser Differenz lässt sich mit objektiven Faktoren erklären. Zum Beispiel mit der beruflichen Stellung, den Dienstjahren oder dem Ausbildungsniveau. Der restliche Anteil bleibt unerklärt – es könnte sich um Lohndiskriminierung handeln. Eine wesentliche Verbesserung zeichnete sich in den letzten Jahren nicht ab.


Das läuft politisch
Seit dem 1. Juli 2020 ist das revidierte Gleichstellungsgesetz in Kraft. Damit werden Firmen mit mehr als 100 Angestellten verpflichtet, eine Lohngleichheitsanalyse durchzuführen, sie von einer unabhängigen Stelle prüfen zu lassen und die Mitarbeitenden über das Ergebnis zu informieren. Die ersten Analysen laufen bis im Sommer 2021. Schon jetzt wird kritisiert, das Gesetz sei zu wenig griffig : Es sind keine Sanktionen vorgesehen – nicht einmal die Übermittlung der Ergebnisse an den Bund ist obligatorisch. Versuche, das Gesetz zu verschärfen, scheiterten bisher.


Das können Betroffene tun
Informieren Sie sich über die Löhne in Ihrem Beruf, etwa bei Kolleginnen und Kollegen oder über Lohnrechner (zum Beispiel Lohnrechner.ch). Sammeln Sie Informationen, die eine potenzielle Diskriminierung belegen können. Lassen Sie sich dann von Berufsverbänden, Gewerkschaften oder Frauenorganisationen beraten.

Wenn Sie eine Lohndiskriminierung vermuten, sollten Sie die Arbeitgeberin darauf hinweisen und versuchen, sich zu einigen. Falls das nicht gelingt, können Sie sich an die Behörden wenden. Es gibt in jedem Kanton eine Schlichtungsbehörde nach Gleichstellungsgesetz für Diskriminierungen im Erwerbsleben. Schlichtungsverfahren sind kostenlos. Wenn keine Einigung erzielt wird, können Sie innert drei Monaten Klage einreichen. Sie können aber auch ohne Schlichtung direkt ans Gericht gelangen.

Unbezahlte Care-Arbeit


Fakten
Besonders am Anfang und am Ende des Lebens sind wir auf Betreuung angewiesen. Rund vier Fünftel der Pflege- und Betreuungsarbeit, kurz Care-Arbeit, sind unbezahlt. Bei der Kinderbetreuung sind es über 90 Prozent, bei der Pflege von Erwachsenen etwa ein Drittel. Das zeigen Untersuchungen des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann.

Welchen Wert hätte diese Arbeit, wenn Angestellte sie verrichten würden? Für das Jahr 2016 berechnete das Bundesamt für Statistik eine Summe von 408 Milliarden Franken, davon 81 Milliarden für Betreuung.

Den Grossteil der Betreuungsarbeit leisten Frauen. Deshalb sind sie auch stärker von negativen Konsequenzen betroffen, wie verminderte Karrierechancen, weniger Einkommen, tiefere Renten. Auch in der Corona-Zeit lasteten Homeschooling und Kinderbetreuung hauptsächlich auf weiblichen Schultern, wie eine Studie des Bundes zeigt.


Das läuft politisch
Diese Neuerungen sorgen seit 2021 für eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Betreuung:

  • Urlaub für Pflegebetreuung
    Falls jemand aus der Familie oder die Lebenspartnerin erkrankt oder verunfallt, ist eine bezahlte Abwesenheit von drei Tagen pro Fall und zehn Tagen pro Jahr möglich. Für kranke Kinder haben Eltern ab dem 1. Juli 2021 Anspruch auf einen 14-wöchigen Betreuungsurlaub.
     
  • Betreuungsgutschriften
    Der Anspruch in der AHV wurde ausgeweitet. Neu werden sie bereits bei einer leichten Hilflosigkeit gewährt. Wenn sie seit fünf Jahren zusammenleben, haben auch Partner und Partnerinnen Anspruch.

Rege diskutiert wird weiterhin das Thema Kinderbetreuung: Ein Krippenplatz kostet etwa 110 bis 130 Franken pro Tag. «Im Schnitt tragen Eltern zwei Drittel der Kosten. Das ist international ein sehr hoher Anteil», schreibt der Frauendachverband Alliance F. So ist auch ein höherer Steuerabzug für Fremdbetreuung ein Thema auf dem politischen Parkett.


Das können Betroffene tun
Diskutieren Sie in der Partnerschaft frühzeitig, wie Sie Betreuungs-, Haus- und Erwerbsarbeit aufteilen wollen.

Klären Sie bei der kantonalen Ausgleichskasse oder Sozialversicherungsanstalt ab, ob Sie Anspruch auf Betreuungs- oder Erziehungsgutschriften Konkubinat So regeln Unverheiratete die Erziehungsgutschriften haben. Solche Gutschriften sind fiktive Einkommen, die dem AHV-Konto gutgeschrieben werden.
Informieren Sie sich über Unterstützungsangebote. Informationen zur Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und zur Pflege von älteren Angehörigen finden Sie auf der Website info-workcare.ch von Travailsuisse.

Sozialversicherungen


Fakten
Bei der Arbeit sind Frauen nicht gleichgestellt. Das wirkt sich auf die Altersvorsorge aus. Der sogenannte Gender Pension Gap geht zwar tendenziell zurück, Altersarmut ist aber nach wie vor weiblich. Die Rentenansprüche werden durch die Anzahl Beitragsjahre und die Höhe des Einkommens bestimmt. Bei beidem sind Frauen im Nachteil. Sie scheiden öfter wegen Betreuungsarbeit aus dem Berufsleben aus oder arbeiten in einem kleineren Pensum zu tieferem Lohn. Zum Tragen kommt das vor allem bei der beruflichen und privaten Vorsorge. Bei den frisch Pensionierten sind 13 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen ohne zweite Säule. Die aktuelle Neurentenstatistik der Beruflichen Vorsorge beziffert die Medianrente auf 2144 Franken für Männer und 1160 Franken für Frauen – die Differenz beträgt 45 Prozent.

Anders sieht es bei der AHV aus: 2019 erhielt ein pensionierter Mann im Schnitt 1900 Franken pro Monat, eine Frau 1726 Franken. Frauen gehen aber früher in Rente und haben eine längere Lebenserwartung. Dadurch beziehen sie rund 3,8 Jahre länger AHV. Hinzu kommt der Witwenzuschlag, von dem sie stärker profitieren.


Das läuft politisch
Die 2017 abgelehnten AHV-Reformen hätten Verbesserungen für die soziale Sicherheit von Frauen gebracht. Zurzeit laufen neue Reformbemühungen. In der Sommersession entschied das Parlament, das Rentenalter von Frauen von 64 auf 65 zu erhöhen. Wer kurz vor der Pensionierung steht, erhält finanzielle Kompensationen. Zugleich fordern Expertinnen eine Reform der zweiten Säule (BVG), um Verbesserungen für Leute mit tieferen Einkommen und Teilzeitjobs zu erreichen.

Neben den Reformen in der Altersversicherung sind Bemühungen in Gang, die Erwerbstätigkeit bei Frauen zu fördern. Dafür würde etwa die Individualbesteuerung sorgen, bei der nicht Ehepaare sondern Individuen besteuert werden.


Das können Betroffene tun
Um Lücken in der Altersvorsorge zu vermeiden, sollten Frauen im Erwerbsleben bleiben. Ein Pensum von mindestens 70 Prozent ist laut Expertinnen wichtig, um die Altersvorsorge zu sichern. Falls es doch eine berufliche Unterbrechung gibt, sollte diese nur kurz sein. Lassen Sie sich beraten, etwa von Frauenzentralen, und informieren Sie sich frühzeitig über Ihr Altersguthaben. Es lohnt sich, ein Budget zu erstellen Vorsorge Auch Geld ist Frauensache .

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Hier können Männer profitieren

Gleichberechtigung läuft in beide Richtungen. Seit dem Frauenstreik hat sich einiges getan, von dem auch Männer profitieren. Drei Beispiele:
 

  • Vaterschaftsurlaub

Seit dem 1. Januar 2021 haben Väter Anspruch auf zwei Wochen bezahlten Urlaub Vaterschaftsurlaub 10 Regeln zum Papi-Urlaub  – ein Meilenstein für die Schweizer Familienpolitik. Der Urlaub kann innert sechs Monaten nach der Geburt bezogen werden, am Stück oder auf einzelne Tage verteilt. Derweil läuft die Diskussion um eine längere Elternzeit weiter.
 

  • Unterhalt nach der Scheidung

Früher galt die sogenannte 45er-Regel: Wenn die Frau bei einer Scheidung älter als 45 war und während der Ehe nicht gearbeitet hatte, galt ein Wiedereinstieg in die Arbeitswelt als unzumutbar – der frühere Ehemann musste entsprechend Unterhalt zahlen. Neu gilt: Falls keine konkreten Gründe (etwa Kinderbetreuung) dagegensprechen, müssen nun auch Frauen ab 45 Jahren wieder auf Stellensuche gehen, so ein Bundesgerichtsurteil.
 

  • Witwerrente

Wenn das jüngste Kind volljährig wird, verliert ein Witwer das Anrecht auf eine Witwerrente – eine Witwe hingegen nicht. Dagegen wehrte sich ein Betroffener bis vor Bundesgericht Witwer klagt erfolgreich gegen die Schweiz «Männer sollten die gleiche Rente erhalten wie Frauen»  – erfolglos. 2012 wandte er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, acht Jahre später gab ihm dieser recht: Die Schweiz verstösst gegen die Menschenrechtskonvention und muss über die Bücher.

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