Jonas Staub wurde schon manches Etikett angehängt. Ein Pionier sei er, der frühere Sozialpädagoge und heutige Unternehmer. Ein Provokateur, Innovator, Nonkonformist, Enfant terrible, Querkopf.

Die «Weltwoche» sieht in ihm gar «Berns Sozialrebell». Von allem stimme wohl ein bisschen, sagt der 48-Jährige. Welche Rolle findet er selbst für sich am treffendsten? «Störenfried!» 

In seiner eigenen Definition ist das Wort positiv besetzt: Jemand, der stört, um schliesslich Frieden zu schaffen. Die Sprachwissenschaft sieht das kritischer. Ein Störenfried «hindert den ruhigen Fortgang».

Das gefällt Staub noch besser. Denn dass alles einfach so weitergeht «wie gäng», was den Umgang mit beeinträchtigten Menschen anbelangt, ist das Letzte, was er will. «Das System muss sich radikal ändern. Ohne Störung passiert das nicht.»

Verbannt in eine Parallelwelt

«Das System»: Das sind die Wohnheime, in denen in der Schweiz rund 150’000 Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen leben. Oder die Werkstätten mit geschützten Arbeitsplätzen. Ein von gut ausgestatteten Finanzströmen unterhaltenes Konstrukt, das diese Menschen vom Rest der Gesellschaft separiert und sie in eine Parallelwelt verbannt. Dort bleiben sie weitgehend unter sich. 

Darin liegt die Hauptkritik von Jonas Staub, der dazu ganze Salven von Argumenten abfeuert. Auf den kürzesten Nenner gebracht, klingt das so: «Separation grenzt einen Teil der Menschen vom sozialen Raum aus. Deshalb ist sie eine Form der Diskriminierung – wissentlich und willentlich.» Aus Staubs Warte sitzt die institutionelle Betreuungsindustrie auf der Anklagebank. 

Gegenseitiger Mehrwert

Sein Ideal ist das Gegenteil. Menschen mit Handicaps sollen selbstbestimmt und gleichberechtigt am Leben teilnehmen können. Auf allen Ebenen: bei der Arbeit, beim Wohnen, in der Freizeit. Inklusion statt Isolation. So, wie es die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Uno verlangt. Diese hat die Schweiz zwar schon 2014 ratifiziert, ist aber noch weit davon entfernt, die Vorgaben zu erfüllen. Darüber zu reden und das Anliegen grundsätzlich zu unterstützen, hat sich als einfacher erwiesen, als es tatsächlich anzupacken.

Jonas Staub hingegen hat es längst angepackt, vor bald zwanzig Jahren. Macht ihn das, um noch ein Etikett hervorzuklauben, zum Visionär? Er widerspricht nicht.

«Man hat gar nicht verstanden, was Inklusion überhaupt bedeutet.»

Jonas Staub

Als Staub damit begann, das inklusive Modell anzuwenden, war er «massiv vor der Zeit». Die Uno-BRK gab es damals noch nicht. Mehr noch: «Man hat gar nicht verstanden, was Inklusion überhaupt bedeutet.» Heute kann der Mann aus Bern das vorweisen, was jede Veränderung braucht: erfolgreiche Beispiele aus der Praxis – als Muster zur Nachahmung. «Wir haben gezeigt, dass die Inklusion von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen einen gegenseitigen Mehrwert schaffen kann.» 

Ein Snowboard als Startkapital

Den Weg zu dieser Erkenntnis legte der Vater zweier erwachsener Kinder auf einem Zickzack-Kurs zurück. Steiner-Schüler, Lehre als Landschaftsgärtner, danach eine sozialpädagogische Ausbildung. Es folgten mehrere Jahre, in denen Jonas Staub selbst Teil des separierenden Systems war, gegen das er heute ins Feld zieht. 

Ein gewisses Unwohlsein sei immer vorhanden gewesen, sagt er. In den Heimen, in denen Staub arbeitete, habe man Leitbilder erstellt, was mit den beeinträchtigten Bewohnern am besten zu tun sei. «Es waren schöne Worte und hehre Absichten. Doch für mich wurde immer deutlicher: In geschlossenen Systemen kann das nicht gelingen. Weil hier über die betroffenen Personen bestimmt wird, statt dass man sie fragt: ‹Was wollt ihr selbst?›»        

2004 wollte Jonas Staub nicht länger «Teil einer Struktur sein, die Menschen fehlentwickelt». Er riskierte den Schritt in die Selbständigkeit und baute die Non-Profit-Organisation Blindspot auf. Ziel war, Sport- und Freizeitangebote für behinderte und nicht behinderte Jugendliche durchzuführen. Startkapital: 50 Franken – für ein Bankkonto, plus ein Snowboard als Sicherheit.

Woher sollten die Teilnehmenden mit einer Beeinträchtigung kommen? Naheliegenderweise aus den Heimen und Sonderschulen, die Staub ja bestens kannte. Doch die meisten, die er für eine Partnerschaft anfragte, winkten ab. «Solche Dinge» würden nicht funktionieren, hiess es. Und Staub sei ein Fantast, wenn er daran glaube. Wieder so eine Schubladisierung. 

«Erst wenn ich damit Geld verdiene, wird es gewürdigt»

Die inklusiven Camps fanden dennoch statt, erste Medien berichteten über das Konzept. Bald hielt Staub Referate über die positive Wirkung von Inklusion. In der etablierten Sozialbranche rümpfte man zusehends die Nase. «Viele haben es als Angriff auf sie empfunden, dass ich einen anderen Weg eingeschlagen habe.»

Einen Weg, der die Kraft der Inklusion aufzeige. «Und einen, der Menschen mit Beeinträchtigungen den Blick auf die normale Welt und ihre Abenteuer ermöglicht, ohne unter Daueraufsicht zu stehen.» Staub wurde als Nestbeschmutzer hingestellt, als jemand, der den Institutionen die Klienten abgrabe, um diese gegen sie aufzuwiegeln. «Jonas, du bist eine Pfeife», schrieb ihm einmal ein Heimdirektor.

Bis 2014 – «zehn einsame Jahre» – räumte er beharrlich die Steine aus dem Weg, die man ihm immer wieder hinwarf. Irgendwann aufgeben? Keine Option. Sondern: Nächster Schritt nach vorn. Staub mochte nicht mehr auf das System angewiesen sein, von dem er sich längst entfremdet hatte. Er wollte mit seiner inklusiven Idee in die Wirtschaft wechseln. Ihm war klar geworden: «Erst wenn ich damit Geld verdiene, wird es wirklich gewürdigt.»

«Niemand kann alles, das ist auch nicht nötig. Am Schluss muss einfach das Team als Ganzes 100 Prozent Leistung und Qualität abliefern.»

Jonas Staub

Staub ging mit Blindspot in die Gastronomie. Erneut mit einem klaren Ziel: Es sollten Betriebe mit einer inklusiven Belegschaft entstehen, die aus eigener Kraft rentabel sind. Im ersten Arbeitsmarkt: kein Franken an staatlichen Subventionen, kein Beschäftigungsprogramm, kein Leistungsauftrag für irgendwen.

Das erste Restaurant in Staubs Heimatstadt Bern hiess nicht ohne eine Prise Ironie «Provisorium 46»; es existiert noch immer. Später kam die «Fabrique 28» hinzu, erst kürzlich die «Lorraine 22». Dazu gibt es zwei Pop-ups und einen Foodtruck. Insgesamt sind im Gastrobereich 74 Personen beschäftigt, mehr als ein Viertel davon hat eine Beeinträchtigung. 

Sie alle erhalten einen Leistungslohn, der oft viel höher als in den Institutionen ist und zusammen mit IV-Rente und Ergänzungsleistungen zum Leben reicht. Gleichwertigkeit dürfe nicht mit Gleichleistungsfähigkeit verwechselt werden, so Staubs Mantra. Er erklärt: Vielleicht sei jemand perfekt im Service, könne aber schlecht rechnen. Dann brauche man dazu jemanden, der genau das übernimmt.

«Niemand kann alles, das ist auch nicht nötig. Am Schluss muss einfach das Team als Ganzes 100 Prozent Leistung und Qualität abliefern.» Daran werde man gemessen. Das Publikum goutiert es: Die Blindspot-Betriebe sind gut frequentiert und bezahlen alle Steuern. Inklusion nicht bloss, weil sie gut gemeint ist, sondern weil sie sich auszahlt.

Ein Wohltäter? Sicher nicht!

Wenn es um die Qualität geht, kann Jonas Staub ein fordernder Chef sein – zu allen Angestellten. Dann ist er mehr der hart kalkulierende Unternehmer als der Wohltäter. Halt, falsche Rolle! «Ich verstehe mich nicht als Wohltäter, das wäre ein Fehler», stellt er klar. Auch wenn es etwas hart klingen möge: «Ich will in erster Linie die Strukturen aufbrechen, nicht den einzelnen Menschen helfen.»      

25 Millionen Franken hat Jonas Staub in all den Jahren beschafft – meist bei Stiftungen –, um seine Idee von konsequenter Inklusion zum Fliegen zu bringen. Wie schafft es jemand, andere Menschen dermassen von seiner Sache zu überzeugen? Einer Sache zudem, die nicht von einer eigenen Betroffenheit getrieben ist? 

Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, kennt Staub gut. Dessen «ansteckende Begeisterung verbunden mit einer grossen Menschlichkeit» beeindruckt Rieder. Und: «Er hat in seinem Kopf und in seinem Herzen einen Kompass, der halbe Sachen nicht zulässt.»

Unternehmen ziehen nach

Jonas Staub geht weiter aufs Ganze, um den inklusiven Ansatz voranzubringen. So will Blindspot mehr Wohnraum im freien Markt schaffen, wo Behinderte und Nichtbehinderte zusammen leben. Für den Gastrobereich ist die Expansion in andere Städte geplant.

Daneben führt Staub Beratungsmandate für namhafte Schweizer Firmen, die sich zu inklusiven Unternehmen wandeln möchten. Diese Firmen bereitet Staub darauf vor, dass sie einen langen Schnauf brauchen werden. Inklusion in allen Strukturen durchzusetzen, sei ein Hürdenlauf.

«Das Thema Inklusion ist in der Politik und der Gesellschaft angekommen, nun müssen mehr gute Beispiele folgen.»

Jonas Staub

Zurzeit berät Staub auch den Kanton Zug. Dieser plant im Bereich der Behindertenbetreuung den Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung: Nicht mehr die Anbieter einer vordefinierten Leistung, also die Institutionen, sollen öffentliche Gelder erhalten, sondern die Personen, die Unterstützung benötigen.

Damit wird die Autonomie der Betroffenen gefördert. Politisch ist das der stärkste Hebel, um die Ziele der Uno-BRK zu erreichen. Auch andere Kantone wie Zürich, Bern, Aargau oder die beiden Basel planen eine solche Änderung der Finanzströme oder haben sie bereits verwirklicht.

Ehrenplatz für den Gegen-den-Strom-Schwimmer

«Das Thema Inklusion ist in der Politik und der Gesellschaft angekommen, nun müssen mehr gute Beispiele folgen», stellt Jonas Staub fest. Seine Befriedigung darüber verhehlt der Pionier nach zwei Jahrzehnten Kampf nicht. Zurücklehnen kommt für ihn nicht in Frage. Ebenso wenig, etwas an seinem Selbstverständnis zu ändern. 

Letzteres verdeutlicht eine Episode: Vor Jahren entdeckte Staub in einem alten Haus in Spiez eine Serie mit vier Fischbildern: Drei schwimmen mit dem Strom, einer dagegen. Als in diesem Mai die «Lorraine 22» eröffnete, erinnerte er sich daran. Jetzt sind die Fische der Wandschmuck im jüngsten Blindspot-Betrieb. Der Gegen-den-Strom-Schwimmer, der Störenfried, hat einen Ehrenplatz gleich beim Eingang bekommen.  

Bühne frei für mutige Menschen

Der Prix Courage des Beobachters geht in eine neue Runde: Das Porträt der jungen Synchronschwimmerinnen, die Missstände in ihrem Verband publik gemacht haben, bildet den Auftakt einer Artikelserie. Die Serie beleuchtet neben den einzelnen Nominationen auch die weiteren Aspekte des Preises.

Verliehen wird der diesjährige Prix Courage, der inspirierende Menschen hinter mutigen Taten und unerschrockenem Handeln ins Zentrum stellt, am 9. November.

Davor werden die Leserinnen und Leser des Beobachters eingeladen, ihre Stimmen für die überzeugendste Kandidatur abzugeben. Das Publikumsvoting und die Einschätzungen der Jury entscheiden schliesslich über die Gewinnerin oder den Gewinner.

Die einzelnen Nominationen stellen wir in einer Artikelserie vor. Bisher erschienen: 

  • Kandidatur 1 – Aline Stettler, Anouk Helfer und Fabienne Nippel: Die Synchronschwimmerinnen machten fragwürdige Trainingsmethoden publik und prangerten Vergünstigungen bei den Wettkämpfen an. Dafür opferten sie ihre sportlichen Karrieren. 
  • Kandidatur 2 – Jonas Staub: Der frühere Sozialpädagoge und heutige Unternehmer kämpft unerbittlich seit bald zwei Jahrzehnten für mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen.
  • Kandidatur 3 – Sarah Ineichen und Celin Fässler: Die beiden Frauen wurden als Babys in die Schweiz gebracht. Als Erwachsene deckten sie einen Adoptionsskandal auf, über den die verantwortlichen Behörden lieber geschwiegen hätten.
  • Kandidatur 4 – Thomas Zumtaugwald: Er rettete einen abgestürzten Skifahrer aus zehn Metern Tiefe unter einem Gletscher vor dem sicheren Tod.
  • Kandidatur 5 – Rosmarie Wydler-Wälti bringt den Bundesrat vor den Europäischen Gerichtshof, weil uns der Staat nicht genügend vor den Folgen der Klimaveränderung schütze.

Die bisherigen Texte und weitere Informationen zum Prix Courage sind abrufbar unter beobachter.ch/prc.