Wahrheiten benötigen mitunter wenig Raum. Diese hier hat auf 30 mal 20 Zentimetern Platz: «In unserer Gesellschaft gibt es zu viele Schiedsrichter und zu wenige Spieler.» Es ist einer dieser Sprüche auf der Rückseite eines Zuckersäckchens. Jetzt steht das Zitat auf einer Schiefertafel in unserer Küche. Darauf schreiben wir wechselnde Parolen, die uns gerade angesagt dünken – eine familieninterne Marotte.

Das mit den Schiedsrichtern steht schon seit Wochen dort. Niemand mag den Spruch ersetzen. Da hat sich etwas aufgestaut.

Mag sein, dass Corona daran schuld ist. Wie diese endlose Seuche sowieso alles zuspitzt und offenlegt, was zuvor bloss als dumpfe Ahnung da war. Meine Ahnung hat mit dem moralisch aufgeladenen Zeitgeist zu tun, der mir zunehmend die Luft nimmt. Um es mit dem Bild vom Zuckersäckchen zu sagen: Immer, wenn die Spieler ihr Spiel geniessen und einfach etwas Freude haben wollen – dann eilt garantiert ein Schiedsrichter herbei und stoppt es.

Irgendetwas ist immer falsch. Dann lassen wir es doch besser gleich bleiben.

Aber wisst ihr was, ihr Schiris dieser Gesellschaft? Ich pfeif auf euch! Richtig: Das hier ist eine Kampfansage gegen die Norm des Verzichtens. Ein Plädoyer für mehr Genuss.

Vom Genuss, zu verzichten

Das im Wissen, dass ein Hohelied auf den gepflegten Hedonismus momentan recht schief in der Landschaft steht. «Es gibt den Genuss an der Abwehr von Genuss», sagt der österreichische Philosoph und Publizist Konrad Paul Liessmann. «Den Genuss, den anderen zu zeigen, dass man verzichten kann.» Wie die Läuferin, die im Training Mal für Mal ihren inneren Schweinehund überwindet, um das Ziel zu erreichen, eine Marathon-Finisherin zu werden. Wie der Jungmanager, der sich nicht vom schnellen Glück eines Teilzeitpensums verführen lässt, um in der Karriere vorwärtszukommen.

Die Küche, in der unsere Zitattafel hängt, ist ein Ort, an dem genüssliche Frivolitäten ganz besonders auf dem Prüfstein stehen. Man flirtet flüchtig mit einer feissen Haxe und entscheidet sich, dem Diktat der Zeit gehorchend, dann doch für rohe Randen. Das Tiramisu wird korrekterweise mit Seidentofu statt mit Mascarpone und Ei zubereitet. Hafermilch statt Hefeweizen. Zur Belohnung das selbstzufriedene Gefühl, Gutes getan zu haben. Und Leuten wie mir ein schlechtes Gewissen.

Doch in mir wächst der Kampfgeist. Eure Attitüde, ihr Asketen und Bessermenschen, ist mir unterdessen so was von wurst! Und wir reden hier von einer gepökelten Wurst mit besonders hohem Fettanteil. Ich will – Achtung, Neujahrsvorsatz! – künftig nämlich dem folgen, was mir der Nucleus accumbens befiehlt, das Lustzentrum im Gehirn. Dummerweise hat sich auch dort ein Schiedsrichter postiert. Er ruft streng: Cholesterin! Blutdruck! Gewicht!

Der Geist, dem Lockruf des Genusses zu folgen, ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Ich ringe mit mir. Wer hat recht: mein Lustgefühl oder der Schiedsrichter, der es kontrolliert?

Glück und Gesundheit

Anruf bei der Wissenschaftlerin Katharina Bernecker, vielleicht kann sie helfen. Sie ist Motivationspsychologin an der Universität Zürich. Zusammen mit einer Kollegin aus dem niederländischen Nijmegen wollte sie herausfinden, wie gut die Menschen darin sind, kurzfristigen Vergnügungen nachzugehen. Und wie sich solche Genussmomente auf ihren Gesamtzustand auswirken.

Das Ergebnis ihrer Forschung: «Die Fähigkeit, das Hier und Jetzt zu geniessen, ist für das seelische und körperliche Wohlbefinden mindestens so wichtig wie die Fähigkeit zur Selbstkontrolle.» Damit nicht genug. Gute Geniesserinnen erleben insgesamt mehr positive Gefühle, sind im Alltag glücklicher, zufriedener mit ihrem Leben. Dazu zeigen sie weniger Depressions- oder Stresssymptome wie Kopfweh, Verspannungen oder Magenschmerzen.

Das klingt schon mal verheissungsvoll. Ist mein Genusspamphlet womöglich doch nicht so weltfremd? Was sich da im Kopf plötzlich alles ausmalen lässt: eben doch die feisse Haxe anstelle der rohen Randen – ganz ohne schlechtes Gewissen. Auf dem Sofa lümmeln, statt joggen zu gehen. Sich den Flow gönnen, stundenlang in einen packenden Roman einzutauchen, ohne sich zu fragen, wann denn jetzt der Haushalt gemacht werden soll. Am Samstag nach dem langen Ausschlafen noch ein ausgiebiges Schaumbad, ohne Gedanken an die Umweltbelastung durch den Wasserverbrauch.

Oder Sex, der einfach nur Sex ist, weil zwei gerade Lust aufeinander haben. Hier haben wir es ja schon weit getrieben mit der Verzichtskultur. Gerade unter jungen Erwachsenen – gestresst durch die Überflutung mit Hochleistungspornos, verunsichert darüber, was heute in dem heiklen Gebiet als Grenzüberschreitung gilt – steigt der Anteil an Sexmuffeln stetig, wie Pädagogen und Psychologinnen erstaunt feststellen. «Generation Enthaltsam» nennt das der «Blick».

Rat von ganz oben

Die Ermutigung, die Dinge anders zu denken, kommt von unerwarteter Seite. «Wie der Genuss des Essens dazu da ist, dich gesund zu halten, ist der sexuelle Genuss dazu da, die Liebe schöner zu machen, um den Fortbestand der Spezies zu sichern.» Das sagte unlängst kein Geringerer als Papst Franziskus. Der Oberhirte der Enthaltsamen konterte so den Vorwurf von Carlo Petrini, Gründer und Hohepriester der Slow-Food-Bewegung, die Kirche demütige den Genuss. Der Pontifex setzte sogar noch einen drauf: «Die Freude am Essen und die sexuelle Lust kommen direkt von Gott.» Ecco!

Mit dem Segen von ganz oben müsste der Plan eigentlich aufgehen. Zur Absicherung dennoch ein zweiter Anruf bei Katharina Bernecker. Was ist denn die Idealform des Geniessens, wie geht das? «Wenn man sich selbst fast vergisst, ganz in der Tätigkeit aufgeht, von der man sich ein gutes Gefühl verspricht», so definiert es die Zürcher Forscherin.

Klingt simpel, ist aber schwierig. Störfaktoren sind die Gedanken an langfristige Vorsätze: Wer von einem Waschbrettbauch träumt, wird die Cremeschnitte nie richtig geniessen können. Diese fiesen Ablenker unterdrücken zu wollen, sei jedoch ein hoffnungsloses Unterfangen, so Katharina Bernecker. «Gedanken an konkurrenzierende Ziele kommen von allein immer wieder.» Für einen perfekten Genuss gehe es darum, sie gar nicht erst zu haben.

Gemäss den Forschungsergebnissen gelingt das den Extrovertierten eher als den Zurückhaltenden, den Männern deutlich besser als den Frauen. Als Strategie gegen die individuelle Neigung empfiehlt Bernecker bei störenden Gedanken an Pflichten einen Handlungsplan: die Zeiten festlegen, in denen Aufgaben erledigt werden. «Das hilft, die Genussmomente besser abzuschirmen.» Etwas tun für die Wonne muss man also schon. Gratis kriegt sie nur der Papst.

Entstanden ist die Idee, der Logik des Geniessens wissenschaftlich auf den Grund zu gehen, übrigens bei einem Bier im Kollegenkreis. Man sei zur Erkenntnis gekommen, dass die Motivationspsychologie bisher zu einseitig auf den Erfolg als Resultat von Selbstkontrolle und langfristiger Planung geschaut habe, sagt Katharina Bernecker. «Es ist an der Zeit, sich auch um den Gegenentwurf zu kümmern, um die Vorteile der Genussfähigkeit.»

Wer sagts denn. Die Spieler sollen spielen. Worauf warten wir?

Lesen Sie, was wir beobachten.
«Lesen Sie, was wir beobachten.»
Dani Benz, Ressortleiter
Der Beobachter Newsletter